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Die Rückseite des Mondes

Die Rückseite des Mondes

Anfangs war der Mond der Erde so nah wie nie. Fast berührte er sie. Doch hielt die Erde so viel Nähe einfach nicht aus. Sie spielte geradezu verrückt. Ihre Berge, die sie gerade mühsam mit Hilfe des Mondes errichtet hatte, stürzten ein, die Flüsse traten über die Ufer und überschwemmten alles. Das Herz der riesigen Ozeane pochte in rasender Schnelligkeit vor sich hin, sodaß das Wasser brodelte und zischte. Meterhohe Wellen bauten sich auf und brachen in zerstörerischer Kraft über sich selbst herein. Bei so viel Unordnung und Chaos konnten natürlich keine Lebewesen entstehen.
Also entschied der Mond sich allmählich von der Erde zu entfernen. „Nein“, jammerte die Erde und runzelte ihr großes braunes zerfurchtes Antlitz. „Bleib, lieber Mond. Ich kann ohne dich nicht leben, denn ich liebe dich.“ Der gute alte Mond seufzte. „Ich liebe dich auch, liebe Erde“, antwortete er sanft. „Aber anscheinend verträgst du nicht allzuviel von meiner Nähe. Sieh doch nur, wie es auf dir aussieht. Kein Mensch und kein Tier will in diesem Chaos auf die Welt kommen. Ich entferne mich ja nicht ganz von dir, eben nur soviel, daß du dich beruhigen und entspannen kannst.“
Langsam unter vielen Tränen, die natürlich als gewaltige Sturzbäche herunter regneten, kam die Erde zur Einsicht. Der Mond und sie versanken in einer innigen Umarmung, die ungefähr drei Trillionen Jahre andauerte. Aber den beiden kam es vor wie drei Tage. Endlich lösten sie sich schweigend voneinander und der Mond entfernte sich ein Stück von seiner über alles geliebten Erde. Leicht fiel es ihm nicht. Aber er war der vernünftigere von beiden. Allerdings wollte er als Erinnerung an seine Zeit mit der Erde das blinde Pferd mitnehmen, das es als einziges Lebewesen schon seit Urbeginn aller Zeiten gab. „Nimm es mit“, lächelte mild die Erde, die vollends damit beschäftigt war, die Wogen auf den Weltmeeren zu glätten, sich in Kontinente zu teilen, die Flüsse zu beruhigen, die Berge ordentlich aufzurichten, sich um Wiesen und Wälder zu kümmern und die frechen, vorlauten Einzeller zu beaufsichtigen, die ohne es zu wissen, ganz unbekümmert die Entstehung und Entwicklung aller Lebewesen auf der Erde einzuleiten begannen.
Das blinde Pferd sprang mit einem einzigen Satz auf den Mond und machte es sich zwischen den Mondhügeln und den kleinen überschaubaren Mondseen gemütlich. Es ließ sich das süße Mondgras schmecken, das einfach köstlich war.
Als der Mond nun in wohlüberlegter Distanz zur Erde am Himmelsgewölbe entlangwanderte, sah er aus seiner klugen Ferne, wie sich die riesigen Ozeane bändigten und zähmten. Ihr Herz pochte sichtlich langsamer und ruhiger. Ein gleichmäßiges Rauschen stieg aus den Weltmeeren auf. Die Wellen kamen und gingen. Der Mond wollte aber von seiner geliebten Erde nicht vergessen werden. So ließ er sich manchmal ganz, manchmal halb und manchmal dreiviertel sehen. Damit die Erde nicht allzu traurig war, weil er sich nun nicht mehr in ihrer unmittelbaren Nähe aufhielt, spielte er zu ihrer Erheiterung ein bißchen mit den Weltmeeren herum, schüttete ordentlich Salz in sie hinein und ließ das Wasser in ihnen verschwinden und dann wiederkommen, dann wieder verschwinden und wiederkommen und immer so weiter. Darüber war die Erde so gerührt, daß sie erneut in Tränen ausbrach, sich gründlich schneuzte und sich anschließend wieder schniefend an die Arbeit machte, indem sie sich um ihre Weiterentwicklung kümmerte. Der Mond schmunzelte vom Himmel herunter. Das blinde Pferd blickte einen Moment gedankenvoll vor sich hin. Dann steckte es den edlen Kopf wieder ins lieblich duftende Mondgras.
Millionen und Abermillionen, Trillionen und Abertrillionen Jahre sind seither vergangen. Immer noch steht der Mond am Himmel. Immer noch betrachtet er die Erde. Die Erde sieht zu ihm hoch und ist froh, daß es ihn gibt. Denn mit jedem Jahr geht er ein winzig kleines Stück weiter von ihr weg. Aber man bemerkt es kaum. Das blinde Pferd grast immer noch auf dem Mond. Manchmal legt es sich hin und ruht sich aus. Wenn es sich ganz sicher fühlt, schläft es für eine Weile tief ein.
Die Erde hat jetzt alles, was sie sich erträumt hat und wofür sie so fleißig gearbeitet hat. Sie hat Wiesen, Blumen, Bäume, Flüsse, Wälder, Meere, Berge und Hügel. Sie hat die Tiere. Und sie hat nun auch die Menschen, die auf ihr leben und sie mit Glück aber auch mit Traurigkeit erfüllen. Oft guckt sie in der Nacht hoch zum Mond, um Trost von dem vertrauten Freund zu empfangen, der doch ein Teil von ihr ist und es auch bleiben wird, egal was geschieht.
Der Mond enttäuscht sie nicht. Immer ist er da bei Wind und Wetter und bei noch so dunkler Nacht. Nur drei Tage lang in jedem Monat da verschwindet er. Niemand weiß, wo er ist, weil er in diesen drei Tagen der Erde völlig den Rücken zukehrt. Während dieser Zeit herrscht große Dunkelheit und die Erde ist voller Unruhe. Was geschieht jetzt? Wo ist der Mond, der im Dunkeln verschwunden ist? Wo ist das blinde Pferd? Frißt es vom saftigen Mondgras? Oder schläft es?
Nichts von beiden tut es. Monat für Monat, Jahr für Jahr, Jahrtausend für Jahrtausend schickt der Mond das blinde Pferd in diesen drei Tagen hinunter auf die Erde, die nichts davon wissen darf. „Warte noch“, sagt der Mond zum Pferd. „Die Sonne ist noch nicht untergegangen.“ Geduldig wartet das Pferd. Es vertraut dem Mond, denn es kann die Sonne ja nicht sehen. Es kann nicht sehen, wie sie rotglühend untergeht und für einen Augenblick den Kopf des blinden Pferdes in leuchtende Farben taucht.
„Du kannst dich nun auf den Weg machen“, sagt der Mond. „Auf der Erde ist jetzt dunkle Nacht.“ Er lächelt ein wenig. Das Pferd gehorcht. Mit einem einzigen Sprung erreicht es die Erde und jagt fast schwerelos durch die dunkle Nacht. Überall wo in diesem Monat Menschen oder Tiere, Bäume oder Blumen gestorben sind, bleibt es stehen und wartet auf sie. Ihre Seelen schmiegen sich sacht an den Hals des Pferdes, das in großer Ruhe verharrt. Leicht und behutsam schwingen sie sich auf den Rücken des Pferdes, das langsam los trabt und wieder mit einem einzigen Sprung die Rückseite des Mondes erreicht. Doch ist die Rückseite des Mondes nicht dunkel, sondern in ein zartes weißschimmerndes Licht gehüllt, das man von der Erde aus nicht sehen kann. Das blinde Pferd fängt sofort an das saftige Gras zu fressen. Außerdem hat es Durst und trinkt vom kühlen Mondwasser. Währenddessen ruhen sich die Seelen auf seinem Rücken aus. Sie fühlen sich sicher und schlafen ein. Sie schlafen tief.
Dann gibt es plötzlich einen Ruck. Das war der Mond, der ebenfalls eingeschlafen war. Jetzt aber ist er aufgewacht, denn die drei Tage sind um. Langsam beginnt sich der Mond wieder der Erde zu zeigen. Noch sieht er ganz schmal aus. Mehr und mehr wendet er sich ihr zu, wird allmählich runder und größer und heller. Er ist nicht allein. Das blinde Pferd ist bei ihm. Auf seinem Rücken sind die Seelen der Menschen, der Tiere, der Bäume und der Blumen, die im vergangenen Monat gestorben waren und die zusammen mit dem Mond und dem blinden Pferd für drei Tage verschwunden waren.
Doch nun sind sie wieder da.

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