In jeder Familie gibt es immer ein gutes Kind. Egal, wieviele Geschwister da sind, es ist immer nur ein gutes Kind darunter. So auch in dieser Geschichte. Es gab eine Mutter, einen Vater und zwölf Kinder. Eines davon war das gute Kind. Es war kleiner als die anderen. Viele Jahre lebte die Familie zusammen. Die Mutter sorgte für ihre Kinder, der Vater arbeitete für sie. Eines Tages aber waren die beiden sehr alt, die Kinder inzwischen groß. Nur das gute Kind blieb klein.
Eines Nachts fiel der alte Vater aus seinem Bett. Er musste ins Krankenhaus und dann ins Heim, weil er nicht mehr laufen und nicht mehr sprechen konnte. Keines der großen Kinder besuchte den Vater im Heim. „Wir haben keine Zeit“, meinten sie.
Nur das gute Kind sagte nichts. Es war klein, nicht sehr stark, mit einer leisen Stimme. Keiner hätte es gehört. Schweigend packte es etwas zu essen und zu trinken in seinen runden, kunterbunten Kinderrucksack. Damit ging es zu dem gelähmten Vater ins Heim, gab ihm zu essen, zu trinken, hob ihn vorsichtig aus dem Bett, setzte ihn in den Rollstuhl und fuhr ihn hinaus in den Wald. Es war ein kalter Winter, überall lag dicker Schnee. Um den Vater hatte das Kind eine warme Decke gewickelt. Da es etwas schwach war, konnte es den Rollstuhl nur mit großer Mühe voranschieben. An einem Abhang rutschte es aus. Sie schlitterten hinunter. Das gute Kind breitete seine kleinen Arme aus. Es gelang ihm, den alten Vater, der aus dem Rollstuhl glitt, rechtzeitig aufzufangen. Mühsam arbeitete es sich mitsamt seinem Vater wieder den verschneiten Abhang hinauf. Das Kind keuchte vor Anstrengung, der Vater atmete schwer. Dabei floss ein bisschen Spucke aus seinem Mund und tropfte hinunter in den Schnee. Beinahe hatten die beiden ihr Ziel erreicht, fast schon waren sie oben angekommen. Das Kind konnte seinen Vater kaum mehr halten. In diesem Moment erblickte es einen großen Mann mit einem freundlichen Gesicht. Der Mann streckte seine Arme weit aus, um den Vater aus den kleinen Armen des guten Kindes an sich zu nehmen. Da kam eine heftige Schneewehe und riss den alten Vater und sein Kind wieder mit hinunter. Unten angelangt konnte es sich mit seinen kleinen Füßen abbremsen. Es blickte nach oben. Der große Mann war verschwunden.
Vorerst waren sie gerettet. Aber sie mussten wieder nach oben. Sie waren ganz allein. Das gute Kind fing an zu weinen. “ Ich schaffe es nicht „, seufzte es. Da hörte es dicht neben sich ein leises, warmes Lachen. Das war der Vater, der immer noch geborgen in seinen schwachen Armen lag. In den Augen des alten Vaters lag ein tiefes Leuchten, ein Wissen von der ganzen Welt.
Endlich verspürte das gute Kind wieder Kraft. Erneut arbeitete es sich mit dem Vater nach oben. Es lag auf den Knien. Behutsam hielt es den Vater in den Armen. Vorsichtig rutschte es vorwärts. “ Er wird immer kleiner, immer leichter „, dachte es. Diesmal schafften sie es. Wohlbehalten erreichten sie ihr Ziel. Erschöpft hockte das Kind im Schnee. Es war so froh. Die Sonne brach durch die Wolken. Das gute Kind breitete weit seine Arme aus, damit der Vater die Sonne sehen konnte. Er war jetzt so klein, viel kleiner als sein Kind. Wieder hörte es sein leises Lachen. Er sah glücklich aus. Er war jetzt von der Sonne ganz durchflutet.
Nach langer Zeit erhob sich das Kind mit seinem runten, kunterbunten Rucksack auf dem Rücken. Es war ganz allein. Es ging eine lange, silbrige Straße entlang. Der runde, kunterbunte Rucksack wipppte leicht bei jedem seiner Schritte. Das gute Kind wurde kleiner und kleiner. Bald war es nicht mehr zu sehen. Man sah nur noch den wippenden, runden, kunterbunten Kinderrucksack.
Bis auch er verschwand.