Das Bäumchen
Zwischen Vater Eiche und Mutter Buche stand das kleine Bäumchen und heulte, wollte es doch seine zarten Wurzeln nicht in der braunen dunklen Erde versenken. Ungeduldig zog und zerrte es daran und versuchte sie herauszuziehen. Vergeblich. Immer fester und tiefer gruben sie sich in den weichen Waldboden. „Ich will weg hier“, rief das Bäumchen.
Hoch oben weit über ihm neigten Vater Eiche und Mutter Buche ihre weisen breitgefächerten Baumkronen über ihr kleines Bäumchen und begannen miteinander zu flüstern. „Noch sind die Wurzeln weich und lassen sich leicht herausziehen“, meinte Mama Buche zu Gatte Eiche. „Wenn unser Kleines erst die Welt sehen möchte, ehe es endgültig für immer an ein und derselben Stelle stehen wird, dann soll es das tun.“ Sie gab Papa Eiche einen kräftigen Stoß mit einem ihrer Äste. „ Hilf ihm“, forderte sie ihn resolut auf. „Wenn du meinst“, knarrte der. Bedenklich wiegte er seine riesige Krone hin und her.
„Los, mach was Mama sagt“, heulte das Bäumchen. „Aber in zehn Jahren bist du wieder hier und gräbst genau an der Stelle deine Wurzeln in die Erde, wo du jetzt stehst“, knurrte der Papa. Streng runzelte er die Stirn und zerfurchte den ganzen Stamm von oben bis unten. Dabei verlor er ein paar Blätter. Einige Eicheln fielen ebenfalls auf den weichen Waldboden herab. Sofort sprangen ein paar rotpelzige Eichhörnchen herbei und stopften sich die Köstlichkeiten in ihre Schnäuzchen. „Jetzt mach schon“, rief das ungeduldige Bäumchen. Wieder zog es heftig an seinen Wurzeln. Vater Eiche neigte sich, groß und geräumig wie er war, über sein Kind, packte es mit einer seiner besonders starken Astgabeln und zog es mit einem Ruck heraus.
„Ich bin frei“, jubelte das Bäumchen. Sofort machte es sich auf den Weg. Etwas unbeholfen schlingerte es über den laubbedeckten Waldboden auf seinen Wurzeln dahin, die klein und noch unfertig aus ihm heraushingen. „Verabschiede dich vorher noch von Oma und Opa Ahorn“, mahnten die Eltern. „Denk daran, was Papa gesagt hat. In zehn Jahren bist du wieder hier bei uns. Wir warten auf dich“, rief ihm Mama Buche nach. Sie schniefte etwas. Ein paar harzige Tränen perlten an ihrem schlanken Stamm herunter. „Es wird schon alles gut gehen mit unserem Sohn“, tröstet sie Papa Eiche mit rauher Stimme. Er räusperte sich ebenfalls verdächtig. Seine riesige Krone wackelte heftig, sein mächtiger Stamm ebenfalls. Diesmal fielen Unmengen Eicheln herunter sehr zur Freude der rotpelzigen Waldbewohner. Auch einige aufmerksame Wildschweine waren inzwischen aufgetaucht und labten sich an den leckeren Früchten.
Das Bäumchen war inzwischen hinter einer Waldschneise verschwunden. Es schlingerte an einem munteren Ameisenhügel vorbei, krackselte immer noch etwas ungeschickt weiter und tapste schließlich auf eine Lichtung, die im Abendlicht hellgrün schimmerte. Auf der Lichtung standen groß und erhaben Oma und Opa Ahorn. Ihre Stämme waren in den vielen tausend Jahren, die sie da schon standen, so hoch gewachsen, daß ihre Baumkronen fast den Himmel berührten. Sie waren einander in großer Liebe zugetan. Ihre verwitterten Äste mit den sternförmigen Blättern waren ineinander verwoben. Es wäre unmöglich gewesen sie zu trennen, hätte es jemand versucht. Scheu näherte sich das Bäumchen den Großeltern. „Ich gehe jetzt in die große weite Welt hinaus“, flüsterte es ihnen ehrfürchtig zu. Ein leichter Wind erhob sich. Die uralten Ahorngroßeltern seufzten. Lange noch hörte das Bäumchen ihr Seufzen, das jetzt schon geschickter auf seinen Wurzeln davoneilte und schließlich den Wald verließ.
Zehn Jahre hatten ihm Mama Buche und Papa Eiche Zeit gegeben. Danach sollte es wieder in den heimatlichen Wald zurückkehren. In diesen zehn Jahren durchwanderte das Bäumchen die Welt, wanderte auf seinen feinfaserigen Wurzeln die Berge hinauf und wieder hinab, streifte durch Täler und Felder, lernte auch die Städte kennen und die Menschen, die darin wohnten.
Die Menschen staunten nicht schlecht, als sie das Bäumchen erblickten. Noch nie hatten sie einen Baum gesehen, der durch die Gegend läuft. Sie lachten und gewannen das Bäumchen lieb. „Willst du uns nicht besuchen und mit uns Weihnachten feiern?“, fragten sie es eines Tages. Es war Winter geworden. Schneeflocken rieselten herab. Das kleine Bäumchen wurde ganz weiß. Hübsch sah es aus wie mit Puderzucker überstäubt. Es ließ sich in die Wohnung der Menschen stellen. Sie steckten Kerzen an seine Äste und zündeten sie an, aber nicht zu lange, damit dem Bäumchen nicht zu heiß wurde. Mit den ganzen Lichtern an seinen Ästen sah es jetzt noch hübscher aus. Den ganzen Winter über stand das Bäumchen da und erfreute die Herzen der Menschen.
Als aber der Frühling ins Land zog, machte es sich wieder auf den Weg, lernte andere Wälder kennen, die noch viel größer waren als der Wald, aus dem es stammte. Es lernte andere Tiere kennen, die auch viel größer waren als die aus seiner Heimat. Es begann sie zu fürchten, denn manche Tiere fletschen ihre Zähne in den gefährlich weit aufgerissenen Mäulern. Erst verfolgten sie das Bäumchen in langsamen Schritten. Doch dann wurden sie schneller und schneller, rasten schließlich hinter ihm her, um seine Äste und Blätter, seinen Stamm mitsamt seinen Wurzeln zu zermalmen und aufzufressen.
Das Bäumchen hatte große Angst. Die Blätter an seinen Ästen zitterten. Es lief so schnell es konnte. Doch seine Wurzeln waren aus ihm inzwischen so weit herausgewachsen, daß es beim Laufen immer wieder über sie stolperte und schließlich der Länge nach hinfiel. Ganz nah waren jetzt die riesigen brüllenden Tiere. Das Bäumchen konnte ihre böse blitzenden Augen sehen, ihren scharfen Atem riechen. „Ich bin verloren“, dachte es. Verzweifelt steckte es seine kindliche Baumkrone zwischen seine Äste und wartete auf das Ende. Doch mit einem Mal waren schwere stampfende Schritte zu vernehmen, die so laut waren, daß die ganze Erde bebte. Ein heftiger Sturm kam auf. Der ganze fremde Wald ächzte. Die schweren Schritte näherten sich unaufhaltsam. Das Bäumchen lupfte einen seiner Äste ein bißchen zur Seite und blinzelte darunter ein wenig hervor. Ein froher Schrei entrang sich seiner kleinen hölzernen Brust. „Opa Ahorn!“, jubelte es.
Er war es tatsächlich. In den Jahren, in denen sein geliebtes Enkelbäumchen in der weiten Welt unterwegs war, waren er und Oma Ahorn noch höher in den Himmel gewachsen, sodaß sie alles überblicken konnten, was auf der Erde geschah. Nie hatten sie ihr Bäumchen aus den Augen verloren, erkannten schließlich auch die Gefahr, in der es sich befand. Mit aller Kraft hatte der uralte Opa Ahorn an seinen ebenfalls uralten Wurzeln gezerrt. Und das war eine Riesenanstrengung! Denn seine Wurzeln waren um einiges größer und länger als die vom Enkelbäumchen.
Schließlich hatte er es geschafft und eilte nun selber durch die weite Welt, um seinem Enkel zu helfen. Wie groß war auch die Angst von Mutter Buche und Vater Eiche, die um die Gefahr wußten, in der sich ihr Kind befand. Oma Ahorn war zu Hause geblieben und wisperte ihnen von ihrer hohen Baumkrone aus quer durch den Wald beruhigende Worte zu.
In der Tat waren die wilden bösen Tiere, die das Bäumchen so grausam bedrohten, in wilder Flucht davongerannt, als sie den riesigen alten Ahorn auf sich zukommen sahen. Sie versteckten sich. Niemand weiß aber genau wo.
Opa Ahorn hob sein Enkelchen in die Höhe und trug es auf seinen starken Ästen nach Hause. Das Bäumchen kuschelte sich in ihn hinein. Wie geborgen war es jetzt. Es schlief ein und erwachte erst, als es Opa Ahorn behutsam genau an der Stelle absetzte, an der es vor zehn Jahren losgegangen war. Wie freuten sich Mama Buche und Papa Eiche, als sie endlich ihr verloren geglaubtes Kind wieder in ihre Äste schließen konnten. Ihre Blätter zitterten vor Freude. Dem Papa Eiche fielen diesmal vor Erleichterung so viele Eicheln herunter, daß Eichhörnchen und Wildschweine und alle Tiere des Waldes für mindestens drei Jahre genug zu fressen hatten.
Opa Ahorn hatte sich inzwischen wieder neben Oma Ahorn gestellt. Ruhig stand er da und grub bedächtig seine Wurzeln wieder tief in die Erde hinein.
Und unser Bäumchen? Das machte es ihm nach.