Cordula war ein Gespenst mit kurzen, struwweligen, hellblonden Haaren. Wie alle Gespenster trug sie ein weißes Nachthemd, wie alle Gespenster war sie bereits mehrere hundert Jahre alt. Genaugenommen war Cordula 350 Jahre jung. Die anderen waren viel, viel älter. Cordulas Vater war 2000 Jahre alt, Mutters Alter betrug 1999 Jahre. Das Nesthäkchen in Cordulas Familie, ein kleines Gespensterbrüderchen, zählte mal gerade 120 Jahre. Je älter die Gespenster wurden, umso geachteter wurden sie. Ebenso erging es den Menschen, mit denen die Gespenster friedlich Seite an Seite lebten. Je älter die Menschen wurden, um so mehr wurden sie von den jüngeren Menschen geliebt und beschützt. Nie wurden sie allein gelassen. Die alten Menschen hingegen standen den jungen Menschen mit ihrem weisen Rat bei. Manchmal, wenn auch sie nicht mehr weiter wußten, fragten sie ihre Freunde um Rat, die Gespenster, die ja schon so lange auf der Erde herumgeisterten und fröhlich zwischen den Menschen herumschwirrten. Dieses friedliche, liebenswerte Land, in dem sie lebten, hieß:
Das Land des langen Lebens.
Cordula wohnte, oder besser, hauste mit Eltern und Brüderchen in dem kühlen Kellergewölbe einer uralten, stillgelegten Fabrik unweit des Schlossparks. Dieser Schlosspark hatte natürlich auch einen Schlossteich und über den Schlossteich glitt sachte das berühmte schwimmende Wasserschloss. Es hieß so, weil es ohne Fundament auf dem Wasser gebaut worden war. Hübsch sah es aus mit goldenen Fenstern und goldenen Türmchen. Manchmal, wenn es regnete, gleichzeitig aber die Sonne schien, leuchtete es um das Wasserschloss herum in allen Farben. Es war, als würden die funkelnden Farben das Schloss beschützen.
Natürlich war es nicht unbewohnt. Ein riesiger, giftgrüner Wassermann mit einem fürchterlich dicken, grünen Bauch, einer ebenso grünen Glatze und einer langen, grünen Flosse nannte das Schloss sein Eigen. Der Koloss lebte, frass, schmatzte, trank und schnarchte allein darin. Das Schlimmste aber: Er hielt den hübschen Königssohn, Prinz Fridolin, gefangen. Niemand wusste davon.
Einst hatten in dem Schloss im Land des langen Lebens ein König und eine Königin gelebt, denen ein bildhübsches Knäblein geboren worden war. Es hatte den Namen Fridolin erhalten. Doch noch in derselben Nacht war das Prinzlein heimlich vom giftgrünen Wassermann entführt worden, der eigentlich tief unten im Schlossteich lebte und oben nichts zu suchen hatte. Warum? Er war einfach neidisch, weil das gütige Königspaar einen Sohn hatte und er nicht. Über den Verlust ihres einzigen Kindes grämten sich der König und die Königin so sehr, dass sie das Schloss verließen. Zusammen mit der gesamten Dienerschaft zogen sie an einen anderen Ort.
Von da an stand das Schloss leer. Flugs schwamm der giftgrüne Wassermann hinein, den kleinen Prinzen hielt er im häßlichen Flossenarm, verriegelte sämtliche Türen, richtete Fridolin ein Zimmerchen ein, gab ihm zu essen und zu trinken, lies ihn aber nie frei. Er selbst schwamm manchmal nachts eine Runde ums Schloss, wenn er zuviel gefressen hatte und ihn das Sodbrennen plagte.
Unterdessen, während die Jahre dahineilten, wuchs der junge Prinz heran, wurde stark und schön. Niemals aber gestattete ihm der Wassermann, aus dem Schloss herauszugehen, um die Welt zu sehen.
Einmal aber, als das Ungeheuer sich wieder einmal überfressen hatte und rülpsend im Teich herumplatschte, bemerkte Prinz Fridolin, dass eine Tür einen Spalt weit offenstand. Der grüne Vielfraß hatte sie übersehen. Schwuppdiwupp war Fridolin draußen, purzelte ins Wasser, schwamm rasch ans Ufer, denn schwimmen hatte er notgedrungen seinerzeit beim Wassermann im Teich lernen müssen, krabbelte an Land und verschwand im nachtdunklen Park. In der Ferne hörte man das Wassermann-Urviech brüllen. Prinz Fridolin hastete zwischen den dunklen Bäumen entlang. Schließlich blieb er keuchend unter einer mächtigen Eiche stehen. Das Brüllen hatte aufgehört. Stattdessen hörte man es wieder schmatzen, schlürfen und schließlich schnarchen. Der grüne Wassermann hatte aufgegeben, denn es war ihm nicht möglich, sich an Land fortzubewegen. Im Teich schon, da war er in seinem Element, auch im Schloss. Dort gab es ja immer genügend Wasser, in dem er sich bewegen konnte. Hier im Park aber hatte er keine Macht mehr. Der Prinz war gerettet!
Wo aber befand er sich? Wie war die Welt seltsam und fremd. Wer war dieses merkwürdige Wesen, das da oben in dem Wipfel des großen Baumes herumflog und neugierig zu ihm hinuntersah? Ein weißes Hemd hatte es an und kurzes, verstruwweltes, hellblondes Haar. Natürlich war es Cordula. Sie war nach Gespensterart nachts in der Gegend herumgeflogen, einmal kreuz und quer über den Park und hatte aus ihrer luftigen Höhe das Fluchtmanöver des Prinzen mitbekommen. Neugierig war sie ihm bis zur Eiche gefolgt. Jetzt flatterte sie langsam zu ihm hinunter. Dicht vor ihm hielt sie an, flog vor seinem Gesicht ein wenig hin, ein wenig her. Die beiden blickten sich an. Der Prinz betrachtete das kleine, zarte Gespensterchen, das vor seinem Gesicht herumschwebte. Cordula ihrerseits betrachtete den wunderschönen, großen Prinzen Fridolin. In diesen wenigen Sekunden hatten sich die beiden bereits ineinander verliebt. Leise flüsterten sie ihre Namen. Wie aber sollten sie als Mann und Frau miteinander leben? Ein Mensch und ein Gespenst. Außerdem war Cordula zwar ein junges Gespenst, aber doch viel älter als der Prinz, der gerade mal zwanzig Jahre alt war.
Cordula nahm Prinz Fridolin auf ihre Schultern. Auch wenn sie zart war, war sie doch kräftig. Gemeinsam flogen sie zu dem ältesten Gespenst, das zusammen mit dem ältesten Menschen gemütlich auf dem Sofa hockte. Sie erörterten gerade das Weltgeschehen. Dabei schmauchten sie eine Pfeife. Prinz Fridolin und Gespensterchen Cordula erzählten ihre Geschichte. Sie erzählten von ihrer großen Liebe. Aufmerksam hörten die beiden Alten zu. Aber so weise sie auch waren, wußten sie doch keine Lösung. Betrübt schüttelten sie die Köpfe. Da schossen dem Prinzen und Cordula die Tränen in die Augen. Sie weinten bitterlich. Die Sonne brach durch die Wolken und schickte ihre Strahlen zu den vielen Tränen. Bald leuchteten diese in den buntesten Regenbogenfarben, sie hüllten Cordula und Prinz Fridolin ein. Fast schien es, als würden die funkelnden Farben sie beschützen. Immer schneller, immer bunter wirbelten sie um die beiden herum, gelb, rot, orange, zartgrün, himmelblau. Schließlich war es ein einziger atemberaubender Farbenreigen, der allmählich verebbte. Eine große Stille kehrte ein. Staunend sahen das alte Gespenst und der alte Mensch auf die beiden Liebenden. Wie hatten sie sich verändert. Prinz Fridolin war in dieser kurzen Zeit des Farbenrausches zwanzig Jahre älter geworden. Er war jetzt ein ausgesprochen gutaussehender, stattlicher Mann. Cordula dagegen hatte sich verjüngt. Außerdem war sie ein Mensch geworden, eine zarte, hübsche Frau. Sie war jetzt ungefähr so alt wie ihr geliebter Fridolin. Um wieviel Jahre sie jünger wurde, das müsst ihr schon selber ausrechnen, liebe Kinder.
Jedenfalls war das Glück der beiden unbeschreiblich. Cordula und Fridolin holten den König, die Königin und die gesamte treue Dienerschaft zu sich nach Hause ins schwimmende Schloss auf dem Schlossteich, denn da wollten sie nun gemeinsam in Zukunft miteinander leben.Sieben Tage und sieben Nächte wurde im Land des langen Lebens Hochzeit gefeiert. Alle Menschen und alle Gespenster feierten mit, junge und alte.
Und der riesengroße, giftgrüne Wassermann?
Dem wurde ein riesengroßes Aquarium gebaut.
Genug zu fressen hat er jedenfalls.