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Fräulein Bohnet

Fräulein Bohnet

Fräulein Bohnet war klein und schmal. Sie wusch sich ihre Haare mit kaltem Wasser und war auch sonst sehr sparsam. Sie lebte allein oder nicht ganz allein zusammen mit ihrem Kater Maunzerle. Maunzerle war ausgesprochen scheu. Er verschlief den ganzen Tag. Wenn er wach war versteckte er sich. Ab und zu kroch er aus seinem Versteck hervor und strich dem kleinen dünnen Fräulein Bohnet um die Beine. Denn er liebte sie sehr. Und das sparsame Fräulein Bohnet liebte das Maunzerle.
Trotzdem fühlte sie sich häufig einsam. Ihre Eltern waren früh verstorben. Was ihr geblieben war, war ihr Bruder, der allerdings mit Frau und zwei Kindern weit weg in Amerika wohnte und nur selten zu Besuch kam. Doch telefonierten sie regelmäßig und liebevoll miteinander.
Fräulein Bohnet seufzte. Wie gern hätte sie auch Kinder gehabt. Wie gern einen Mann dazu! Doch schien es ihr nicht vergönnt. Von Beruf war sie Chefsekretärin eines attraktiven Rechtsanwalts. Selbstverständlich war sie in ihren Chef verliebt, machte Überstunden, tat alles für ihn, opferte sich auf. Natürlich war diese Liebe einseitig. Das war dem klugen Fräulein Bohnet klar. Der schöne Rechtsanwalt hatte eine ebenso schöne selbstbewußte Frau an seiner Seite und drei freche Kinder. Wenn die in die Kanzlei kamen, lachten sie über das fleißige grauhaarige ältliche Fräulein. „Du bist aber alt und dünn“, riefen sie und drehten ihr eine lange Nase. „Hört auf das Fräulein Bohnet zu ärgern“, ermahnte sie der Papa aus dem Nebenzimmer. „Sie ist meine rechte Hand“, fügte er noch hinzu. Das Fräulein lächelte. „Sie können jetzt Feierabend machen“, meinte ihr Chef freundlich. Fräulein Bohnet seufzte leicht, packte ihre Sachen zusammen, die schmale Aktentasche, in der rasch eine blaue Brotbüchse verschwand, zog sich ihren grauen Mantel über und ging nach Hause.
Zu Hause angekommen öffnete sie die Tür. Das Maunzerle kam ihr entgegen gesprungen. Das Fräulein streichelte es, gab ihm zu fressen und zu trinken, ging dann ins Badezimmer und wusch sich ihre Haare mit kaltem Wasser. Über ihr lärmte es. Das war ihr Nachbar. Der Frank. Er polterte, sägte in der Küche rum und hörte ohrenbetäubend laute Musik. Es war Techno und kein Brahms. Das einzige aber, was Fräulein Bohnet liebte, war klassische Musik. Besonders liebte sie Mozart. Weil sie die Musik so mochte, ging sie jede Woche regelmäßig in den Kirchenchor. Sie hatte eine hübsche aber ziemlich leise Altstimme, sodaß es nicht besonders auffiel, wenn sie beim Singen mal kurz aussetzte um sich zu räuspern. Nach der Chorprobe ging sie mit den anderen weg um ein Bier zu trinken. „Kommen Sie doch mit“, forderten sie die anderen Chormitglieder jedes Mal freundlich auf, denn sie wußten, daß Fräulein Bohnet alleine lebte zusammen mit ihrer Katze aber ohne Mann.
Das Fräulein ging also mit, nippte an ihrem kleinen und einzigen Bier, hörte den anderen zu, sprach selbst kaum etwas, lachte ab und zu, wenn jemand einen Scherz machte und ging recht bald nach Hause, wo das Maunzerle bereits auf sie gewartet hatte und sie erfreut begrüßte. Über ihr ergoß der Nachbar Frank lärmende Musikgeräusche über sie. Sie ging ins Badezimmer um sich ihr graues Haar mit kaltem Wasser zu waschen.
Die einzige wirkliche Freude, die Fräulein Bohnet außer dem Maunzerle hatte, war die nächtliche Unterhaltung an ihrem kleinen handlichen Laptop mit Josef. Vor Jahren hatte ihr der Bruder aus Amerika den Laptop mitgebracht und ihr gezeigt, wie man damit umgeht. „Damit kannst du chatten und lernst vielleicht doch noch deinen Traummann kennen“, sagte er freundlich. Inzwischen konnte sie gut damit umgehen. Sie schrieb immer nachts, wenn Horrorfränk, so nannte sie ihren lauten Nachbarn heimlich, über ihr endlich ins Bett gegangen war. Es knallte und rumpelte noch eine Zeitlang. Dann war Ruhe. Nur sein Schnarchen war zu vernehmen. Das Haus war über alle Maßen hellhörig.
Eines Nachts hatte es ein klein wenig im Computer geläutet. Fräulein Bohnet sah nach. Tatsächlich hatte ihr jemand geschrieben. Ein Mann. „Ich heiße Josef“, schrieb er . „Und wie heißt du?“ Vorsichtig begannen sie sich aus ihrem Leben zu erzählen. Josef war überaus herzlich in allem, was er ihr schrieb. Er interessierte sich für sie und hörte ihr zu. Inzwischen war er aus ihrem Leben nicht mehr wegzudenken, gab ihm einen Sinn, machte es lebenswert. Sie erzählte ihm vom Maunzerle, vom Horrorfränk, der ihr tagtäglich das Leben mit seinem Krach schwer machte, vom Chor und vom netten Chef, den sie verehrte, aber nicht mehr liebte. Denn nun hatte sie Josef. Gesehen hatten sich die beiden aber noch nicht.
Eines Nachts, das Fräulein wollte gerade zu ihrem Laptop eilen um mit Josef zu chatten, ging über ihr unerwartet ein gräßlicher Lärm los. Horrorfränk war aus unerfindlichen Gründen aufgewacht und drehte die Musikanlage ungeachtet der späten Stunde auf volle Lautstärke. Sie hatte sich so auf die Unterhaltung mit Josef gefreut! Und nun vermieste ihr der rücksichtslose Kerl über ihr die schönen erwartungsfrohen Stunden.
Fräulein Bohnet seufzte, wusch sich ihre Haare nervös mit kaltem Wasser und drehte nun ihrerseits die Musik auf volle Lautstärke. Mozart. Was sonst hätte sie zu hören ertragen. Der Lärm über ihr verstummte plötzlich. Jemand polterte die Treppe hinunter, hämmerte an ihre Tür. Fräulein Bohnet öffnete mit kaltem nassen Haar, das Maunzerle dicht hinter ihr. Der Unhold stand im Türrahmen. „Was ist das für ein Lärm?“, beschwerte er sich und trat ungebeten ins sparsam eingerichtete Wohnzimmer. Maunzerle ließ ihn nicht aus den Augen und verfolgte ihn auf Schritt und Tritt. „Wo ist der Ausschaltknopf“, brüllte der unverschämte Kerl. Maunzerle strich jetzt mit leisem Schnurren um seine Beine. Auf einmal fing der ungehobelte Mensch an zu husten, dann zu röcheln und schließlich mit letzter Kraft nach Atem zu ringen. „Katzenallergie“, keuchte er. „Weg mit dem Vieh“, rief er noch mit schwacher Stimme. Er war jetzt zu Boden gesunken, wand sich hin und her. Das Maunzerle setzte sich auf ihn drauf und machte es sich auf ihm gemütlich.
Fräulein Bohnet war ratlos, was sie machen sollte. Ein wenig aufgeregt lief sie ins Badezimmer und begann sich ihre Haare mit kaltem Wasser zu waschen. Sie dachte an die Qualen, die ihr Horrorfränk mit seinem überlauten baßgeschwängerten Technogekreische beschert hatte. All ihr höfliches Bitten dies doch zu unterlassen, hatte er höhnisch abgewehrt. Zusätzlich hatte er ständig was zu sägen und zu hämmern gehabt. Und nun war er mitten in der Nacht im Begriff gewesen ihr das Liebste zu nehmen, was sie hatte. Nämlich die unvergleichlich süßen Stunden mit Josef.
Mit einer raschen Bewegung stellte sie das rauschende Wasser ab. Das Stöhnen, Röcheln und Keuchen aus ihrem bescheidenen Wohnzimmer war schwächer geworden. Die Tür war einen schmalen Spalt geöffnet. Das Maunzerle saß immer noch auf der Brust vom dahinschwindenden Horrorfränk. Es schnurrte jetzt und leckte sich die Pfötchen. Fräulein Bohnet hob ein wenig ihren dunkel bestrumpften Fuß. Mit einer leichten fast unmerklichen Bewegung stieß sie die Tür ins Schloß. Es schnappte leise ein. Dann ging sie zurück ins Badezimmer um sich ihre Haare zu trocknen. Anschließend bürstete sie sie sorgfältig. Dabei lauschte sie ihrer Musik, die immer noch sanft zu hören war. Wie sehr liebte sie Mozart.
Schließlich entschloß sie sich etwas zaghaft zurück ins Wohnzimmer zu gehen. Zögernd öffnete sie die Tür. Es grauste ihr etwas, was sie zu sehen bekommen würde. Mit fröhlichem Miauen sprang ihr das Maunzerle entgegen. Zärtlich schmiegte es sich an ihre ein wenig zittrigen Beine. Der große Kerl lag lang ausgestreckt auf dem preiswerten Teppichboden. Er rührte und regte sich nicht. Er war mausetot. Maunzerle hatte ganze Arbeit geleistet. Himmlische Mozartklänge rauschten durch den Raum begleitet vom zufriedenen Schnurren der Katze.
Wieder war Fräulein Bohnet ratlos, was sie machen sollte. Wohin mit dem verblichenen Horrorfränk? Wie ruhig er auf einmal dalag. Entgegen aller moralischer Bedenken beschlich sie ein Gefühl der Erleichterung. Letzte mozartsche Klänge umschwebten sie sphärenhaft. Maunzerle lag jetzt behaglich in des unscheinbaren Fräuleins Armen. Etwas verloren stand sie da und streichelte das brave Tier.
In diesem Moment klingelte es an der Haustür. Fräulein Bohnet erschrak und ging hin um zu öffnen. Maunzerle sprang auf den Boden und folgte ihr. Vorsichtig und ziemlich ängstlich schloß sie die Tür auf. Ein großer schlanker Mann gehüllt in einen langen dunklen Mantel stand dahinter. „Darf ich eintreten?“, fragte er höflich. „Ich bins Josef“, fügte er hinzu. Seine Stimme klang tief und warm. „Als du dich nicht meldetest, habe ich mir Sorgen gemacht und mich auf die Suche nach dir begeben“, sagte er zum sprachlosen glücklichen Fräulein Bohnet. Josef trat ein. Er erblickte die reglos daliegende Gestalt. Da ihm Fräulein Bohnet viel von ihrem Schreckensnachbarn erzählt hatte, konnte er sich eins und eins zusammenzählen. Und er verstand.
Mit einer einzigen kraftvollen Bewegung schnappte er sich sein geliebtes Fräulein Bohnet und trug es auf seinen starken Armen ins kleine schlichte Schlafgemach. Dort angekommen legte er sie, klein und zerbrechlich wie sie war, vorsichtig ins schmale Bett und umfing sie zärtlich.
Was aber wird nun aus der Leiche?
Machen Sie sich bitte keine Sorgen.
Das Maunzerle macht das schon.

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