Die Stoffelerzähltante ist fertig mit Brille putzen und hat eine neue Geschichte für euch.
Es war Rumpelomas achzigster Geburtstag. Alle ihre Freunde waren da zum Feiern. Ihre Erdbeerfreunde, dazu Fritzchen die Walderdbeere, Manuel die Brombeere, Lieselotte die Himbeere und Bürstchen die Stachelbeere, die übrigens hervorragend rocken konnte. Das vergaß ich beim letzten Mal zu erwähnen. Auch ihre Freunde vom anderen Ende der Welt waren eingeladen. Ihr kennt sie noch alle, nicht wahr? Sicher erinnert ihr euch auch noch an die kleine Sonne smilie.
Wieder wurde getanzt, Schlagsahne gegessen, geredet und gelacht. Zwischendurch gab es ein vom Geburtstagskind Käthchen selbstgebranntes Schnäpschen. Nur für die Großen, wohlgemerkt. Die Kleinen bekamen Limonade aus Rumpelomas eigener Herstellung.
Als sich das Fest im kleinen, baufälligen Häuschen am Rande der Stadt seinem übermütigen Höhepunkt näherte, die dicke Rosalinde mit dem hageren Jochen einen langsamen Walzer wagte und Jakob der Edle unser Käthchen durch die Luft wirbelte, ertönte ein leises und schwaches Klopfen an der Tür. Erstaunt sahen sich die Freunde an, denn noch einen Gast erwarteten sie nicht.
Schließlich öffnete Käthchen die Tür. Vor ihr stand zitternd vor Erschöpfung und Angst ein kleiner Nerz. Vorsichtig hob ihn das verblüffte Käthchen auf und trug ihn hinein ins Zimmer. Die Freunde umringten das verängstigte Tier und gaben ihm erstmal zu trinken und zu essen. Als es sich etwas gestärkt hatte, begann es zu erzählen.
Peterle, so hieß der kleine Nerz, war mit Nerzmama Erika, Nerzpapa Thomas und Nerzschwesterlein Leni zu einem Waldkonzert gehüpft, in der die berühmte Nachtigall Anna, eine Schülerin der legendären Nachtigallendiva Maria, Opernarien zum Besten gab. Mama, Papa und Leni lauschten hingerissen dem betörenden Gesang, während Peterle, der mehr für elektronische Musik schwärmte, sich heimlich hinter eine besonders große Fichte verdrückte und dort kleine Käfer und Würmer naschte.
Auf einmal schreckte er hoch, denn er hörte ein leises Wimmern und unterdrückte Hilferufe, die aber bei dem lautschallenden Gesang und dem begeisterten Klatschen der Zuhörer nur er vernahm. Er konnte gerade noch sehen, wie zwei finstere Gestalten seine Eltern und seine Schwester in einem riesigen grauen Sack verschwinden ließen und damit durch den dunklen Wald davonliefen. Er wußte sofort, wer diese Gestalten waren: Pelzjäger. Erbarmungslose Pelzjäger, die das klangvolle Konzert ausgenutzt hatten, um seine Familie zu entführen. Peterle wußte auch wohin: Zur Nerzfarm. Wie oft hatten seine Eltern ihm und Leni leise und warnend von diesem grausigen Ort erzählt, in dem die Pelzjäger zahllos viele Nerze gefangen hielten, um sie später zu töten, ihr weiches, wunderschönes Fell zu Mänteln und Mützen zu verarbeiten und sie anschließend an reiche Leute zu verkaufen.
Verzweifelt rannte Peterle hinter den beiden Männern und dem zappelnden grauen Sack her, aber sie waren schon zu weit weg und bald gar nicht mehr zu sehen. Peterle rannte blindlings weiter, Tage und Nächte hindurch ohne einmal anzuhalten. Immer wieder rief er nach Mama, nach Papa, nach seiner Schwester Leni, aber es war niemand da. Er war ganz allein.
Schließlich, in einer weiteren tiefdunklen Nacht, erblickte er ein kleines, baufälliges Häuschen am Rande einer Stadt, in dem noch Licht brannte. Mit letzter Kraft erreichte er es und pochte an die Tür ohne zu wissen, was ihn dort erwartete.
Hier endete die Erzählung von Peterle. Atemlos hatten die Freunde zugehört. Das Lamm Hänschen war noch dichter an seine Mutter Brigitte gerückt und auch Goldi der Fasan rutschte ein wenig näher an seinen Kumpel Ronald den Gockel. Denn sowohl Hänschen als auch Goldi waren selbst einst in großer Gefahr gewesen ebenso wie jetzt die Familie des kleinen Nerzes.
„Bei uns bist Du erstmal in Sicherheit“, beruhigte ihn Oma Käthchen. „Wir werden Dir helfen Deine Familie wiederzufinden.“
Aber wie ?
Natürlich war es mal wieder Gockel Ronald, der den besten Einfall hatte: „Zunächst müssen wir rausfinden, wo sich diese Nerzfarm befindet. Ich weiß auch schon wie „, meinte er selbstgefällig und zauberte ein kreisrundes Ei aus seinem Federkleid hervor. „Ein Ei“, stellte das vorlaute Fritzchen fest. „Schlau erkannt“, knurrte der hagere Jochen, schlecht gelaunt wie immer. „Das ist nicht nur ein rundes Ei“, prahlte Ronald. „Das ist ein Ei-fon. Meine Exfreundin, Legehenne Elfriede, hat es mir in Erinnerung an alte Zeiten geschenkt. Sie legt jeden Tag so ein Ei-fon. Kein Problem für sie. Damit kann ich twittern, bloggen, mailen, navigieren und telefonieren.“ Sprachs, hielt sich das kreisrunde Ei ans rote Gockelohr und rief unverzüglich seinen Freund Diego an.
Wetterhahn Diego war, wie meine treuen Leser wissen, Bundestrainer der Gockelnationalmannschaft im Ruhestand. Auf Grund seiner fußballerischen Karriere hatte er sein Privatleben vernachlässigt und hockte nun von morgens bis abends vorm Computer. Hocherfreut eine neue Aufgabe zu bekommen, hörte er sich interessiert Kumpel Ronalds Bericht an. „Das Wichtigste ist, den Standort der Nerzfarm herauszufinden“, stellte Diego fest. „Für mich nur eine Krallenübung. Mit Google street view finde ich alles. In wenigen Minuten maile ich Dir die Koordinaten.“ Gekräht, getan. Innerhalb kürzester Zeit hatte Ronald alle erforgerlichen Daten auf seinem Ei-fon. Sorgenvoll seufzte er auf. „Die Nerzfarm ist sehr weit weg. Das wird ein langer und beschwerlicher Weg.“
Also brachen die Freunde sofort auf. Mitten in der Nacht.Es wurde wirklich ein langer und mühsamer Gang. Viel zu essen und zu trinken hatten sie nicht dabei. In aller Eile hatte die dicke Rosalinde ein wenig Proviant zusammengepackt. Ronald der Gockel und Goldi der Fasan flogen langsam voran. Auf Ronalds Rücken saß ganz klein und zusammengekauert das Peterle. Das Köpfchen hatte es tief in Ronalds Federn vergraben, die schwarzen Knopfaugen waren geschlossen. Der kleine Nerz war eingeschlafen und träumte von früher.
Ganz am Schluß der Truppe gingen die stillen Tannenzweigmenschen. Dahinter rollte die kleine Sonne smilie und versuchte die Freunde ein wenig zu wärmen.
Die Nerzfarm erreichten sie gegen Mittag des nächsten Tages. Erschöpft und am Ende ihrer Kräfte. Peterle war inzwischen erwacht und rieb sich die Äuglein. Das Bild, das sich unseren Freunden bot, war noch grausiger, als sie es sich vorgestellt hatten. Die Nerzfarm bestand aus lauter kleinen, engen, drahtvergitterten Käfigen, einer dicht an den anderen genagelt. Aus diesen Käfigen drang ein Wimmern und Klagen, ein Ächzen und Stöhnen, wie es die Welt noch nicht gehört hat. Es waren unzählige Nerze, die qualvoll schrien. Sie waren so eng zusammengepfercht, dass sie kaum atmen konnten und sich aus Not und Verzweiflung Stücke ihres Fells ausrissen. Um die Nerzfarm herum erstreckte sich eine einsame, karge, trostlose Landschaft.
Plötzlich ertönte ein lauter Schrei. Das war Peterle. Er hüpfte von Ronalds Rücken und rannte auf einen der Käfige zu. Piepsend und schluchzend presste er sich an das Drahtgefängnis, denn er hatte seine Eltern und seine Schwester entdeckt. Sie lebten, Gott sei Dank. Aber wie! Kraftlos lagen sie auf dem Boden, abgemagert und halb verdurstet. Ihr Peterle erkannten sie wieder, waren aber zu schwach um aufzustehen und es zu begrüßen.
Jetzt mußte alles ganz schnell gehen, ehe die gefährlichen Pelzjäger zurückkamen. Die kleine Sonne smilie rollte nah an die Käfige heran und brachte mit ihrer Hitze die vergitterten Türen zum Schmelzen. Im Nu waren alle Nerze befreit. Da lagen sie auf der Erde, die kleinen Pelztiere, kaum fähig sich noch zu bewegen. Peterle hatte sich zwischen Mama, Papa und Leni gelegt. Eng hielten sie sich umschlungen. Wie war er glücklich, wieder bei ihnen zu sein!
Aber was sollte mit den Nerzen geschehen? Es waren so viele! Wer würde sich um sie kümmern?
Ratlos standen die Freunde da. „Wenn doch jetzt der Engel mit den zerzausten Haaren hier wäre“, stöhnte Rumpeloma Käthchen verzweifelt. „Aber ich habe ihn so lange nicht mehr gesehen.“
Und plötzlich stand er mitten unter ihnen. „Wie hast Du uns gefunden?“, fragte Gockel Ronald verblüfft. Der Engel mit den zerzausten Haaren lächelte kaum merklich und öffnete seine rechte Hand. Darin glitzerte ein kleines, kreisrundes Ei.
Dann breitete er weit seine Arme aus, um die Nerze darin aufzunehmen. Der kleine Fritz bückte sich zuerst und hob eines der Tiere auf. Vorsichtig trug er es zu dem Engel mit den zerzausten Haaren und legte es behutsam in dessen ausgebreitete Arme. Auf einmal richtete sich Fritzchen erstaunt auf. „Da sind ja noch mehr Tiere drin“, sagte er leise.
Rasch, denn die Zeit eilte, wurde nun ein Nerz nach dem anderen von unseren Freunden aufgehoben und in die Arme des Engels gelegt. Schließlich war es geschafft. Alle Tiere hatten Platz gefunden. Auch Peterle, Mama Erika, Papa Thomas und Schwesterchen Leni. Eng aneinandergekuschelt lagen sie zusammen.
Der Engel mit den zerzausten Haaren erhob sich langsam in die Luft. Schwer war die Last, die er trug. Die Tiere in seinen Armen schliefen allmählich ein und träumten vom lieben Gott. Die Freunde blickten dem Engel nach, wie er davonflog, wie er immer kleiner und kleiner wurde. Und verschwand.
Rumpeloma Käthchen putzte sich lange ihre dicken Brillengläser. Dann sagte sie: „Gehen wir nach Hause.“
Ihr Lieben, das ist eine traurige Geschichte. Leider ist viel Wahres dran. Wenn ihr groß seid, könnt ihr machen, dass die Geschichte anders erzählt wird.
Seid gut zu den Tieren.
Nehmt sie in eure Arme und beschützt sie.
Seid gut zu den Tieren.
Dann brauchen sie eines Tages den Engel mit den zerzausten Haaren nicht mehr.
Dann haben sie euch.