Oma Waschbär
Kindergeschichten— geschrieben von stoffel @ 21:51
In der Stadt, in der die alte Trude wohnte, lebten so viele Waschbären, daß es jedermann erlaubt war sie abzuschießen. Für jeden Waschbären gab es ein Kopfgeld. Pro Kopf 50 Cent. Die Leute bewaffneten sich mit Gewehren und Fangeisen, durchstöberten ihre Häuser, Keller und Böden, in denen die possierlichen Tiere in Scharen hausten und sich an den reichlich vorhandenen Vorräten satt futterten. Das zufriedene Knuspern der Tiere wurde jäh unterbrochen durch Gewehrschüsse, das eisige Zuschnappen der Fallen und rohe Zwischenrufe: “ Wir haben wieder einen erledigt. “ Gelächter ertönte, gefolgt vom Wimmern und Schreien der Tiere.
Die alte Trude machte da nicht mit. In der Nacht ließ sie als einzige ihre Kellertüre offenstehen. Eine Petroleumlampe befand sich inmitten des Raumes und verbreitete ein schwaches Licht, das bis hinaus auf die Straße schimmerte. Die Waschbären, die voller Angst und Todespein durch die nachtschwarze Stadt hasteten, erblickten mit ihren flinken Äuglein das Licht, rasten mit letzter Hoffnung darauf zu, ohne zu wissen, was sie erwartete. Ein großer Kellerraum erwartete sie, ausgelegt mit wärmenden Decken. Schälchen gefüllt mit Futter und Wasser waren ringsum verteilt. Mittendrin aber stand die alte Trude, drehte am Docht der Petroleumlampe, damit sie heller leuchtete, wartete, bis alle verfolgten Waschbären den Weg in ihren Keller gefunden hatten, schloß danach die Türe hinter ihnen und hieß ihre vierbeinigen Gäste willkommen.
Niemand außer den Kindern der Stadt wußte etwas von diesem Treiben. Sie durften im Garten der alten Trude spielen, in dem blühende Steckrosen in Hülle und Fülle emporwuchsen. Wenn die Kinder beim Spielen von außen durch das kleine Kellerfenster blickten, konnten sie die unzählig vielen Waschbären sehen, die eng aneinander geschmiegt auf den Decken lagen und sich ausruhten. Die Kinder verrieten nichts, liebten sie doch die pelzigen Tiere. Wieviel bittere Tränen hatten sie nachts in ihren Betten geweint, wenn sie den Ruf der großen Menschen gehört hatten: “ Wir haben wieder einen erledigt. “ Von nun an hieß die alte Trude bei den Kindern nur noch Oma Waschbär. Natürlich hatte Oma Waschbär Hilfe. In ihrer bescheidenen Mietswohnung lebte außer ihr selbst noch ein Wellensittich, der allerdings ausgesprochen faul war. Obwohl seine Käfigtür den ganzen Tag offenstand, blieb er lieber drin, hockte auf seiner Stange, fraß Unmengen Körner und wurde ganz schön dick. Fliegen wollte er schon gar nicht. Das war ihm zu anstrengend. Er schlurfte auf seinen Beinchen höchstens mal eine Runde um den Käfig rum. Danach hüpfte er bedächtig in sein angenehmes Gefängnis zurück und pickte erleichtert wieder Körner auf. Nachts aber begleitete er Oma Waschbär in den Keller. Selbstverständlich ließ er sich tragen. Während Trudchen die Kellerstufen hinunterstapfte, saß der mollige Vogel auf ihrer Schulter und piepste ihr eine gemütliche Melodie ins Ohr. Ach ja, übrigens hieß das dicke Vögelchen Baldrian. Unten im Kellerraum angekommen, wurden Trude und Baldrian freudig von den Waschbären begrüßt, die den ganzen Tag lang sehnsüchtig auf die beiden gewartet hatten. Tagsüber mußten sie sich ruhig verhalten, damit niemad Verdacht schöpfte. Besonders für die kleinen Waschbärenkinder war das schwer. Wie gern wären sie umhergetollt. Wie gern hätten sie miteinander gespielt. Aber jedes Geräusch mußte vermieden werden. Es hätte sie das Leben kosten können. Nun aber waren die alte Trude und der behäbige Baldrian bei ihnen, füllten die Schälchen, erkundigten sich nach ihrem Befinden, fragten, ob die Decken ausreichten und spielten mit ihnen. Das heißt Oma Waschbär spielte mit ihnen. Baldrian war zu faul. “ Ich führe lieber ein gutes Gespräch „, meinte er, ließ sich von der guten Trude von der Schulter nehmen und vorsichtig auf den Rücken des ältesten und klügsten Waschbären setzen. Dort im bequemen Schneidersitz unterhielt sich Baldrian mit dem klugen Waschbären über den Sinn des Lebens.
Auf einmal schwirrte etwas durch die halb geöffnete Kellertür herein und flog aufgeregt einige Runden über die muntere nächtliche Schar. “ Flügelchen, was machst Du denn hier? “ , rief Oma Waschbär erstaunt. “ Du solltest längst schlafen. “ Flügelchen war eine kleine Biene. Eines Tages war sie am Mittag durchs offene Küchenfenster hereingeflogen und ohnmächtig auf die Fensterbank niedergesunken. Vorsichtig untersuchte die alte Trude das Bienchen. Besorgt stellte sie fest, daß ihr rechter silbriger Flügel verletzt war. Deshalb gab sie der kleinen Biene den Namen Flügelchen und pflegte sie gesund. Auf dem rechten durchsichtigen Flügel blieb jedoch für immer eine kleine Narbe zurück, eine winzige Einkerbung, an der sie die Trude sofort erkennen konnte. Eines Tages setzte sie Flügelchen in die warm duftende rotsamtige Blüte einer hohen Steckrose. Flügelchen labte sich an dem süßen Nektar, bis sie satt war, breitete ihre zarten Flügel aus, den gesunden linken und den rechten mit der kleinen Narbe und flog davon. Doch sie besuchte jeden Tag um die Mittagszeit die Trude. Als erstes blickte diese auf den rechten Flügel. “ Flügelchen „, rief sie dann jedesmal glücklich.
Doch diesmal war Flügelchen nachts gekommen. Das bedeutete nichts gutes, ahnte voller Sorge Oma Waschbär. Richtig. Aus der Ferne hörte man Schritte. Schwere finstere Schritte von vielen großen Menschen dröhnten die Straße entlang, kamen näher und näher. Gelähmt vor Entsetzen blickten alle durch die halb offenstehende Kellertür. Die lärmenden Schritte waren jetzt ganz nah. „Hier müssen irgendwo Waschbären sein „, brüllten viele grausame Stimmen durcheinander. “ Man riecht sie durch die ganze Stadt. “ Ein wildes böses Lachen folgte. “ Gleich wird es 50 Cent Stücke nur so hageln „, ging das Geschrei weiter. “ Jetzt ist es um uns geschehen „, flüsterte Oma Waschbär, denn sie wußte, als Beschützerin der Waschbären würde sie ebenso sterben müssen wie die ihr anvertrauten Tiere. Baldrian versteckte sich im weichen Fell des ältesten Waschbären. „Flügelchen, komm her“, rief Trude der kleinen Biene zu, die immer noch unentwegt über die am Boden kauernde Schar kreiste. Doch Flügelchen hörte nicht. Immer schneller, immer höher flog sie durch den Kellerraum. Eine Runde, zwei Runden, drei, vier. Und dann flog sie wie der Blitz durch den dunklen Spalt der Türe geradewegs auf den Anführer der mordlustigen Gesellschaft zu, genauer gesagt auf dessen Nase. Auf die setzte sich Flügelchen drauf, zielte und stach zu. Ein gellender Schrei hallte durch die Nacht: “ Au! “ Dem folgte ein dumpfer Aufschlag. Der große finstere Mensch war umgefallen. Allergieschock. Ohne den krakelenden Wortführer bekamen seine Gefolgsleute Angst. “ Eine Biene hat ihn getötet „, schrien sie, nahmen die Beine in die Hand und liefen davon. Niemals mehr wagten sie sich in die Nähe von Trudes Keller.
Sie waren alle gerettet: Die Waschbären, Baldrian, der vorsichtig aus dem Fell hervorblinzelte, und Oma Waschbär. Wo aber blieb Flügelchen, der sie ihr Leben verdankten? Mit letzter Kraft war die mutige kleine Biene zurück in den Keller geflogen. Ohne ihren Stachel, der in der Nase des Anführers steckte, war sie verloren. Sie würde sterben müssen. Das wußten alle, die sie gerettet hatte und die jetzt erschöpft auf den Decken saßen. Oma Waschbär streckte ihre Hand aus. Flügelchen flog hinein. Der rechte Flügel mit der kleinen Narbe zitterte ein wenig.
Wie zart und leicht liegt Flügelchen in Oma Waschbärs Hand.
Als wäre ihr kein Leid geschehen.