Kindergeschichten

Federglöckchen

Ein kleines Mädchen kam mitten im Winter auf die Welt. Bei seiner Geburt wog es gerade mal hundert Gramm. Winzig und leicht war es wie eine Feder. Als es seine ersten Worte sprach, war es, als würden kleine Glöckchen klingen, leise und zart. Darum nannte seine Mutter ihr kleines Mädchen Federglöckchen.

Die Menschen liebten Federglöckchens Stimme, seine elfenhafte Gestalt, die sich so anmutig bewegte. Wenn es ging, war es immer ein bisschen so, als schwebe es dahin. Federglöckchen wurde nie sehr groß, es blieb klein und leicht. Sein schmales, ernstes Gesicht war so lieblich, dass sich die Menschen nicht sattsehen konnten an ihm. Seine Haare waren ganz hell und fein. Sie sahen tatsächlich aus wie kleine Federchen.

So wie seine äußere Erscheinung war auch Federglöckchens Seele empfindsam und zerbrechlich. Sobald einem Lebewesen, sei es ein Mensch oder ein Tier, schlimmes widerfuhr, wurde sein Gesicht blass und traurig. Es drehte sich um, ging in sein Zimmer, verschloss die Tür, redete kein Wort, riss sich unter Schmerzen eines seiner Federhaare aus und ließ es aus dem offenen Fenster in den blauen Himmel hineinfliegen.

Einmal sah Federglöckchen auf dem Heimweg von der Schule, wie mehrere Jungen auf einen kleinen Marienkäfer traten, der hilflos am Boden lag. “ Tut ihm nicht weh“, rief es flehend, seine Stimme klang süß wie tausend Glocken. Die Jungen hielten überrascht inne in ihrem grausamen Spiel. Federglöckchen nahm den verletzten Käfer in seine Hand. Er zappelte noch eine kurze Zeit, dann starb er. Das Mädchen trug ihn den Garten. Dort begrub es ihn, ging in sein Zimmer, verschloss die Tür, riss eines seiner Haare aus und ließ es wegfliegen. Jedesmal, wenn es eins seiner Haare ausriss, wurde es ein klein wenig schwächer, ein klein wenig matter.

Mit den Jahren wurde es älter. Mit seinem schwebenden Gang wanderte es durch die Welt, entzückte die Menschen mit seiner Leichtigkeit, brachte sie mit seiner Glöckchenstimme zum Lachen und zum Weinen.

Es sah aber auch soviel Unheil und Schrecken, dass es immer wieder in sein Zimmer zurückkehren mußte und eines seiner Haare ausriss.

Einmal beobachtete es, wie ein Mensch einem anderen Menschen das Leben nahm. Er ging einfach zu ihm hin, griff in dessen Brust, zog sein Herz heraus und warf es weg. “ Du hast ihm wehgetan“, wimmerte Federglöckchen. Seine Stimme war kaum mehr zu hören. Es wandte sich um, ging in sein Zimmer, verschloß die Tür, riss sich seine restlichen Haare aus und ließ sie zum Fenster hinausfliegen.

All seine Kräfte hatten es nun verlassen. Es legte sich ins Bett. So schwach fühlte sich Federglöckchen, dass es sich nicht mehr bewegen konnte. Gelähmt war es vom Kopf, der ganz kahl war, bis zu den Fußspitzen. Die Menschen kamen zu ihm. Sie baten es wieder zu sprechen, sie mit seiner Glöckchenstimme zu erfreuen. Sie flehten es an aufzustehen und ihnen wieder seine liebreizende Gestalt zu zeigen. Solange wollten sie an seinem Bett wachen, bis es geschah.

Doch Federglöckchen stand nicht wieder auf. Klein und schmal lag es da. Jeden Tag, wenn die Sonne aufging, bemerkten die Menschen, dass es noch ein wenig kleiner, noch ein wenig blasser geworden war. Schließlich war es so klein, dass sie es kaum noch sehen konnten. Endlich schliefen sie ein, erschöpft vom vielen Wachen. Ein langer tiefer Schlaf, aus dem sie erst nach hundert Jahren erwachten. Sogleich blickten sie zum Bett hin. Doch da war niemand mehr.

Auf dem Kissen aber lag eine kleine weiße Feder.

Ein kurzer, heftiger Windstoß kam auf. Das Fenster sprang auf. Die kleine weiße Feder flog hinaus.

Mitten in den blauen Himmel hinein.

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