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Die kleine Seele

Die kleine Seele stand hinter einer weißen Wolke und blinzelte hinunter auf die Erde. „Ich will da nicht runter“, maulte sie. „Da unten ist alles fremd. Hier oben will ich bleiben. Hier ist es warm und gemütlich.“ „Nichts da“, schimpfte die Sonne, die unermüdlich vom Himmel herunter schien. „Ab mit dir, du Faulpelz. Jeder muß mal runter.“

Doch die kleine Seele wollte nicht. Trotzig blieb sie hinter der weißen Wolke stehen und rührte sich nicht von der Stelle. Es wurde Nacht. Die Sterne begannen einer nach dem anderen zu funkeln. „Nun mach dich endlich auf den Weg“, riefen sie mit ihren hellen Stimmen der kleinen Seele zu. „Wir werden an dich denken, wenn du auf der Erde bist. Wir, die Sterne, die Sonne und der Mond.“ „Ich denke jetzt schon an dich“, knurrte der gute Mond streng, packte die kleine Seele, zerrte sie hinter ihrer weißen Wolke hervor, die auch in der Nacht hell schimmerte, und setzte sie auf seinen gelben Mondstrahl. Die kleine Seele begann zu weinen. „Ich habe Heimweh“, klagte sie. „Darf wenigstens ein Stückchen von mir hier oben hinter meiner weißen Wolke bleiben?“ Das wurde ihr großzügig erlaubt. Und so schwebte hell und leicht die eine Hälfte der kleinen Seele auf dem Mondstrahl hinunter auf die Erde, wo sie in ein klitzekleines Baby schlüpfte, das im selben Moment als ein Menschenjunge geboren wurde.

Die andere Hälfte der kleinen Seele blieb oben am Himmel hinter der weißen Wolke stehen, knusperte süße Kekse, die ihr die Sterne aus Sternenstaub gebacken hatten und ihr fröhlich kichernd zuwarfen. Die meisten konnte die kleine Seele fangen, aber nicht alle. Manchmal rutschte ihr ein Sternenstaubkeks aus den Fingern, flog quer durch das riesige Weltall und landete irgendwann auf der Erde, wo er in tausend Stücke zerbröselte. „Ein Meteorit“, staunten die Menschen, wenn etwas hell über den Himmel jagte. Das war aber kein Meteorit, liebe Kinder. Das war ein Sternenstaubkeks von der kleinen Seele. Ab und zu lugte sie hinter der weißen Wolke hervor, um zu sehen, was ihre andere Hälfte auf der Erde unten so trieb.

Die krabbelte unterdessen quietschvergnügt als winziges Menschenkind in einer Erdbehausung über den Fußboden. Wohnung nannten ihre Menscheneltern die Behausung. Sie liebten ihren kleinen Jungen von Herzen, zogen ihn groß und ließen es ihm an nichts fehlen. Sie wußten aber nicht, daß in ihrem Kind nur die Hälfte der Seele war, die andere Hälfte aber oben hinter einer weißen Wolke steckte und neugierig alles betrachtete, was auf der Erde geschah.

Das kleine Kind wuchs heran, ging wie alle Kinder zur Schule, hatte Freunde, wurde größer, studierte, verdiente Geld, verliebte sich, heiratete und bekam selber Kinder mit einer kleinen Seele. Jetzt war aus dem Kind ein großer Mann geworden, der viel Gutes tat. Die anderen Menschen hatten ihn gern. Eigentlich könnte er glücklich sein. Doch er war es  nur zur Hälfte. Manchmal blieb er mitten in seinen vielen Tätigkeiten stehen, blickte hinauf in den Himmel, wo eine weiße Wolke langsam dahinzog. Da kribbelte es ihm in den Augen, als ob er gleich weinen müßte. Er wußte aber nicht, warum. In seinem Herzen zitterte eine stille Sehnsucht. Er wußte aber nicht, wonach.

So lebte er dahin angetrieben von Verpflichtungen und Wünschen. Er liebte seine Frau, seine Kinder, seine Eltern, seine Freunde, eilte emsig und fleißig jeden Tag zur Arbeit. Trotzdem blieb er zwischendurch immer wieder stehen und blickte hoch zu der weißen Wolke nicht wissend, daß dahinter die andere Hälfte seiner Seele stand, die Sternenstaubkekse knusperte, zu ihm hinuntersah und auf ihn wartete.

In dieser Zeit machte ein berühmter Wissenschaftler eine sensationelle Erfindung. In allen Zeitungen las man davon. „Die Menschen werden ab jetzt nicht mehr sterben. Sie werden auf Erden ewig leben, denn Professor Habilitus Doktorandum Allwissidumm hat ein wohlschmeckendes Getränk erfunden, welches dies ermöglicht.“ So war es landauf, landab zu lesen.

Die Menschen jubelten und freuten sich, hatte sich doch endlich ein Menschheitstraum erfüllt. Auch der Mann mit der kleinen Seele freute sich. Er lebte weiter wie bisher, schaffte dies, schaffte jenes. Manchmal aber blieb er stehen und blickte nach oben. Doch die weiße Wolke sah er nicht mehr.

Mit der Zeit wurde er immer trauriger, immer unglücklicher. Eines Tages konnte er nicht mehr arbeiten, so traurig war er. Er wußte nicht, woher es kam. Er verließ seine Eltern, die so alt waren, daß sie aussahen wie graue verwitterte Steine. Seine Frau verließ er, seine Kinder, seine Freunde, die alle inzwischen uralt waren. Einsam wanderte er durch die Welt.

Eines Nachts erreichte er eine große Wüste, über der die Sterne funkelten. Er legte sich mitten hinein in die Wüste und blickte nach oben. Da sah er endlich die weiße Wolke wieder. Hell schimmerte sie in der Nacht. Er sah noch etwas, das er bisher nicht gesehen hatte. Hinter der weißen Wolke lugte etwas hervor, hielt einen knusprigen Sternenstaubkeks  in der Hand und winkte ihm zu. „Das bin ja ich“, dachte der Mann. Auf einmal kribbelte es wieder so komisch in seinen Augen, wurde schließlich so stark, daß Tränen wie Flüsse aus ihnen hervorbrachen. Sein Herz zitterte so heftig, daß es zersprang. Die kleine Seele purzelte daraus hervor, huschte auf den gelben Mondstrahl, der gemächlich vom Himmel zu ihr hinunterglitt und kletterte auf ihm empor bis hin zu der weißen Wolke, hinter der die andere Hälfte der kleinen Seele wartete. Die beiden verschwanden hinter der Wolke, umarmten einander und wurden wieder eins. Wie war die kleine Seele glücklich, wieder zu Hause zu sein.

Mitten in der Wüste lag der Mann mit einem Lächeln auf dem Gesicht.

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