Ihr kennt sicherlich alle den großen Redefluß, der durch das ganze Land fließt. Er ist so riesengroß, dass man weder den Anfang noch das Ende sieht. Unendlich viele Wellen türmen sich auf ihm auf, hohe und niedrige, gefährliche und harmlose. Alle bestehen sie aus Wörtern, aus so vielen, dass man es gar nicht fassen kann.
Die höchste und allergefährlichste von diesen Wörterwellen ist die berüchtigte und von den Menschen und Tieren am meisten gefürchtete Drei-G-Welle. Die drei G-Wörter dieser Riesenwelle heißen:
Gewalt, Gier, Grausamkeit.
Erinnert Ihr Euch noch an den eingebildeten, aber gutmütigen Gockel Ronald? Der nun war überzeugt davon, alles Böse überwinden zu können und auch die Drei-G-Welle eines Tages zu besiegen. Schnurstracks flog er quer durchs Land, erst zum Dorf Immergrün und dann zum Roggenfeld. Dort lud er die Tannenzweigmenschen, die kleine Sonne smilie und ihre Tierfreunde ein zur großen Gockel-Schau am Redefluß. Dann flog der Unermüdliche weiter zum anderen Ende der Welt, geradewegs zum kleinen, baufälligen Häuschen am Rande der Stadt, in dem mal wieder ordentlich gefeiert wurde.
Rumpeloma Käthchen tanzte gerade mit Jakob, dem Schönen, einen flotten Walzer. Die Brombeere Manuel rappte hinreißend. Die freche Walderdbeere Fritzchen tanzte in der riesigen Schlagsahneschüssel Samba, die dicke Rosalinde zog ihn schimpfend heraus und der hagere, unreife Jochen wischte ihm verdrossen mal wieder das weiße, verschmierte Erdbeermäulchen ab. Auf der Mitte des wackeligen Tischchens tanzte ein kleines, graziles Persönchen einen zauberhaften Pas de deux. Das war die wunderhübsche, anmutige Himbeere Lieselotte, die engste Freundin von Fritzchen und Manuel.
Nachdem die zwei mit Hilfe des alten Pfifferlings Jeremias auf das Feld der tanzenden Erdbeeren geflogen waren, hatte Lieselotte ebenfalls kleine Steinchen in Richtung des alten Griesgrams geworfen, woraufhin der das Lottchen…… nicht ohrfeigte. Nein. Dazu war er zu sehr von ihrer Anmut angetan. Vielmehr setzte er sie behutsam auf seine Hand und blies sie sacht direkt zwischen Fritzchen und Manuel. Aber das nur nebenbei.
In die übermütige Tanzparade platzte also der eitle Ronald und wurde von allen begeistert begrüßt. Oma Käthchen bot ihm sofort ein Gläschen Selbstgebrannten an. Doch Ronald lehnte ab und forderte alle auf, ihm zugleich zum Redefluß zu folgen, um ein beeindruckendes Schauspiel zu erleben. Ein Schauspiel, das seine einzigartige Kraft und Tapferkeit bezeugen sollte. Der Gockelhahn war wirklich über alle Maßen von sich überzeugt. Er erwähnte dann noch, dass die Roggenfelder- und Immergrüner-Freunde bereits am Fluß seien. Also machte sich die ganze Mannschaft auf den Weg.
Der Morgen graute bereits, als sie endlich ihr Ziel erreichten. Stürmisch begrüßten sich die Freunde. Alles schnatterte und lachte durcheinander.. „Schluß jetzt!“, rief der eitle Ronald dröhnend. „Schluß jetzt und schaut her!“ Alle starrten gebannt auf den Redefluß mit den unzähligen Wörterwellen. „Dahinten ganz in der Ferne seht Ihr die hochgefährliche Drei-G-Welle, von der ich Euch erzählt habe. Springt jetzt alle in den Fluß und Ihr werdet erleben, wie ich Euch vor dieser furchtbaren Welle bewahre. Dreimal werde ich krähen und sie wird vor Euch zurückweichen. Habt Vertrauen zu mir.“ Also sprach der großspurige Hahn. Was glaubt Ihr, was sie taten? Sie sprangen tatsächlich alle ohne Außnahme in den Redefluß!
Fröhlich schwammen und paddelten sie zwischen den ganzen Wörten herum. Sie sahen die grausame Drei-G-Welle auf sich zukommen, voller Vertrauen, dass Ronald das Unheil in letzter Sekunde abwenden würde, wie er es versprochen hatte. Die Welle kam näher und näher. Sie wurde höher und höher. „Jetzt“, kreischte Gockel Ronald, „jetzt werde ich krähen!“ Und das tat er:
Er krähte einmal.
Er krähte zweimal.
Er krähte dreimal.
Dann krähte er nicht mehr. Stattdessen hörte man ein verzweifeltes, gar nicht mehr stolzes: „Das klappt ja überhaupt nicht.“ Er krähte jetzt wie von Sinnen, hörte nicht mehr auf zu krähen. Doch vergebens. Die furchtbare Gewalt-Gier-Grausamkeit-Welle türmte sich immer höher vor den inzwischen um ihr Leben schwimmenden Freunden auf, um sie unerbittlich mit sich in die Tiefe zu reißen. Ihr wollt wissen, was die letzten Gedanken unserer Lieben waren?
Nun, die kleine Lieselotte dachte: „Ich hätte so gerne Fritzchen und Manuel geheiratet.“
Fritzchen dachte: „Nie mehr Schlagsahne.“
Manuel: „Kein Rappen mehr.“
Jakob: „Wer beschützt jetzt Oma Käthchen?“
Rosalinde: „Dann doch lieber Erdbeersoufflee.“
Jochen: „Mist!“
Die Tannenzweigmenschen schwiegen.
Der Hamster Mops dachte: „Nix mehr zu fressen.“
Die Katzen Paula und Karl: „Wir würden noch so gern weitersingen.“
Die Hasen Fridolin und Franka sahen sich an.
Das Lamm Hänschen dachte: „Was wird mit meiner Mutter?“
Und Mutter Brigitte dachte: „Was wird mit meinem Hänschen?“
Smiliene: „Meine Wärme hilft diesmal nicht.“
Ronald: „Ich Versager.“
Haben wir jemanden vergessen? Na klar:
Die Rumpeloma.
Was dachte denn unser Käthchen? Käthchen dachte an ihr ganzes Leben zurück. Besonders dachte sie an ihr altes Fahrrad Mathilde, dass sie damals durch die Nacht getragen hatte. Käthchen lächelte ein wenig und dachte: „Jetzt ruht sich Mathilde aus.“ Dann fiel ihr das Erlebnis mit den drei schwarzen Herren ein, die sie aus ihrem Häuschen hatten herausekeln wollen. Wie dumm hatten sie geguckt, als eine Erdbeere nach der anderen aus der großen Schlagsahneschüssel rausgekrabbelt kam und anfing zu tanzen. Und dann begann Rumpeloma Käthchen zu lachen. Sie lachte immer doller. Schließlich lachte sie so sehr, dass auch ihre Freunde davon angesteckt wurden und ebenfalls anfingen zu lachen trotz der Todesnot, in der sie sich befanden.
Durch das wahrhaftig ohrenbetäubende Gelächter wuchsen kleine Schaumkronen auf dem Redefluß, die schnell größer wurden. Unendlich viele Buchstaben bildeten sich auf dem Fluß, bis eine riesige Lach-Welle entstand, viel größer und mächtiger als die gefährliche und böse Welle. Die Lach-Welle überspülte ohne Probleme die Drei-G-Welle, die kleiner und kleiner wurde und zum Schluß nicht mehr zu sehen war. Sanft umschloß die gute Welle unsere Freunde und trug sie behutsam ans Ufer. Dann entfernte sie sich langsam.
Erschöpft lagen die Freunde da. Wie waren sie froh und erleichtert! Gockel Ronald näherte sich ihnen zerknirscht und bat sehr leise um Verzeihung. „Schwamm drüber“, sagte Jakob, der Gütige. „Es ist halt schiefgegangen. Du hast es so ja nicht gewollt.“ Wir begießen unsere Rettung nachher bei mir zu Hause.“ Diese Worte kamen natürlich vom unverbesserlichen Käthchen. „Wie heißt denn unsere Rettungswelle?“, fragte Hänschen, das immer noch zitterte. „Bestimmt heißt sie Liebe“, seufzte das romantische Lieselottchen. „Quatsch“, lachte Käthchen. „Guckt doch mal genau hin.“ Fritzchen buchstabierte mühsam und umständlich, was auf der Lachwelle geschrieben stand, die immer kleiner wurde und bald ganz verschwunden war:
„Schlagsahne ohne Erdbeeren.“
„Unsere Welle heißt: Schlagsahne ohne Erdbeeren!“, schrie er begeistert.
Daraufhin mußten wieder alle fürchterlich lachen, auch Ronald stimmte mit ein. Nur Jochen murmelte verdrossen etwas von Bildungslücke bei kleinen Walderdbeeren, die schon längst fließender lesen müßten. Aber bei dem allgemeinen Gelächter verzog sich auch sein leicht grünes Jochen-Gesicht zu einem Lächeln, wohl das erste in seinem Leben. Ein bißchen süß-sauer sah es ja aus.
Aber immerhin.