Rudi, der Apfel, war ziemlich eingebildet. Mit vielen anderen Äpfeln hing er am alten Baum Samuel, der ganz allein mitten auf einer grünen Wiese stand. Samuel war uralt. Die vielen Äpfel, die er Jahr für Jahr tragen mußte, bedeuteten für ihn mehr und mehr Mühsal und Last. In seiner Jugendzeit hatte er sie kaum gespürt, aber jetzt……
Zugegeben, die Äpfel an seinen knorrigen, rauhen Ästen waren wunderschön. Groß, mit leuchtend roter Farbe, und saftig. Jeden Herbst rannten die Kinder herbei. Jubelnd und kreischend kletterten sie an Samuels breitem, leicht gebeugten Baumstamm empor, um sich die leckeren Früchte abzupflücken und sie zu vernaschen. Manchmal kam auch die gute Oma Lisbeth vorbei. Dann rüttelten und schüttelten die Kinder wild am alten Samuel herum, dass die Äpfel nur so herunterpurzelten, beinah der Oma Lisbeth auf den Kopf. “ Danke, Kinder“, rief sie fröhlich, verstaute einen gehörigen Vorrat in ihrer abgewetzten braunen Tasche und machte sich vergnügt auf den Heimweg.
Ruhig ließen es die Äpfel mit sich geschehen. Was blieb ihnen auch anderes übrig. Baum Samuel war jedes Jahr erleichtert, wenn er auf diese Weise von seiner Last befreit wurde.
Ein Apfel aber, der ließ es nicht ruhig mit sich geschehen. Der begehrte auf, hielt sich für den Schönsten, weigerte sich gepflückt zu werden, geschweige denn auf natürliche Weise vom Baum zu fallen.
Das war Rudi.
Rudi war tatsächlich ein besonderes Prachtexemplar. Tiefrot, kugelrund. Nicht sehr groß. Aber knackig!
„Ich will nicht gegessen werden, nein“, schimpfte er und klammerte sich an seinen Ast. “ Ich will immer hier hängenbleiben. Alle sollen mich ansehen. Alle sollen meine Schönheit bewundern.“ „Na, hör mal her“, meinte eine Amsel, die gerade an Rudis Astnachbarn herumpickte. „Ewig wird Deine Schönheit aber nicht andauern. Sei froh, dass Du den Menschen Freude bereitest. Uns natürlich auch“, zwitscherte sie und flog voller Appetit auf Rudi drauf. „Weg mit Dir“, quietschte Rudi erbost. „Ich bin wurmstichig.“ „Umso besser“, erwiderte die Amsel frech, ließ aber doch vom schlechtgelaunte Rudi ab, weil ihr bei dem Gezeter der Appetit vergangen war. “ Irgendwann fällst Du vom Baum, dann wirst Du aufgesammelt und endest als Apfelmus im Kochtopf.“ Sprachs, erhob sich in die Lüfte und weg war sie.
“ Niemals“, rief Rudi ihr nach. “ Ich bleib für immer hier hängen. Ich werde für immer rotbackig und saftig bleiben. Niemals wird meine Schönheit vergehen. Ich habe viel Kraft, nie werde ich Großväterchen Samuel loslassen.
Als der Baum das hörte, schüttelte er seine weise, alte Baumkrone, dass die brüchigen Äste leise knackten und die Blätter sanft erzitterten. Inzwischen war der Herbst schon fast vorbei. Sämtliche Äpfel waren entweder gepflückt worden oder hatten sich von selbst fallen lassen. Außer Rudi natürlich. Tatsächlich hatte er viel Kraft. Er schaffte es, an seinem Ast hängenzubleiben, trotz der Stürme, die inzwischen erbarmungslos am alten Samuel rüttelten, dass der gute, weise Baum aufstöhnte, knarrte und ächzte. Der eigensinnige rote Apfel, der stolz hoch droben in Samuels Wipfel thronte, machte ihm das Leben noch zusätzlich schwer.
Der Herbst verging, der Winter brach herein. Kalt und still. Bald war Rudi mit einer dünnen, weißen Schneeschicht bedeckt. Ein bißchen schimmerte seine rote Farbe hindurch. Niedlich sah das aus. das muß man zugeben. Die Amsel kam zurückgeflogen, hungrig und durchgefroren.“ Darf ich ein kleines Stückchen von Dir abbeißen?“, fragte sie Rudi mit dünnem Vogelstimmchen. “ Nein“, erwiderte das niedliche Äpfelchen. Traurig flog die Amsel davon.
Samuel schwieg.
Der Frühling kam, schließlich der Sommer. Rudi hing mit anderen, neuen Äpfeln am erschöpften Apfelbaum. Immer noch war er rot, saftig, voll blühender Schönheit. Auch im darauffolgendem Jahr hatte sich nichts geändert. Doch halt! War nicht an der strahlend roten Schale von Rudi ein winziger brauner Fleck? Kaum sichtbar? “ Du bist ein bisschen braun an Deiner rechten Apfelhälfte“, piepste die Amsel, die wieder zurückgekommen war. Zum Glück ging es ihr wieder gut. „Quatsch“, brummte Rudi mürrisch. Natürlich hatte das eitle, eingebildete Äpfelchen diesen Makel schon längst bemerkt.
Wieder gingen alle anderen Äpfel ihren natürlichen Weg.
Bis auf Rudi. Im nächsten Jahr war die braune Stelle an seiner Schale etwas größer geworden. Ein Jahr später noch größer. Die Hälfte der roten Farbe war verschwunden.
Einmal hatte Großväterchen Samuel seine ganze verbliebene Kraft zusammengenommen, sich hin-und hergebogen und geschüttelt, um das lästige Äpfelchen loszuwerden. Doch vergebens. Rudi klammerte sich an ihn, ließ ihn nicht los.
Samuels Baumstamm stand noch ein wenig schiefer da, noch ein wenig gebeugter, noch ein wenig müder.
Ein Jahr später war Rudis Schale vollständig braun. Wieder ein Jahr später war die Schale nicht nur braun, sonder auch völlig verschrumpelt. “ Guckt mal“, riefen die Kinder. “ Da oben hängt ja ein häßlicher Apfel. Eklig sieht der aus. Den wollen wir nicht haben. Oma Lisbeth will den auch nicht.“ Apfel Rudi fühlte sich auf einmal sehr einsam. Die Amsel kam herbeigeflogen. “ Du kannst, wenn Du willst, in mich hineinbeißen“, murmelte Rudi leise. Das tat die Amsel auch. “ Igitt“, piepste sie. Bei ihrem Biss in Apfel Rudi nämlich tropfte eine braune, übelriechende Flüssigkeit aus ihm heraus und versickerte unten in der Erde. “ Igitt“, rief die Amsel nochmal. Weg war sie.
Rudi sah jetzt so klein aus, wie er da an seinem Ast hing, so klein, schrumpelig, braun, ein bisschen weißlicher Schimmel hatte ihn überzogen. Ganz alleine hing er da oben im Baum.
Samuel war noch älter, noch schwächer. Trotzdem bot er ein letztes Mal all seine Kräfte auf. Er schüttelte sich. Es war eher wie ein sanftes Zittern. Wieder knackten die Äste, wieder bebten die wenigen Blätter leise. Doch diesmal schaffte es der alte Baum. Ein heftiger Windstoß kam ihm zu Hilfe. Apfel Rudi versuchte sich festzuhalten. Vergebens. Mit einem häßlichen Plumps landete er auf der Erde. Braun, kläglich, matschig.
Zum Erbarmen.
Die letzte Kraftanstrengung hatte dem gütigen Baum Samuel das Leben gekostet. Krachend und berstend stürzte er zu Boden.
So liegt er da. Genau über Rudi.
Er hat seine Äste über ihn gebreitet.