Das kleine ß
Kindergeschichten— geschrieben von stoffel @ 23:10
Das kleine ß sass auf der dicken grauen Wolke Klothilde und weinte bittere Tränen. “ Was heulst Du denn „, knurrte die dicke Wolke unfreundlich. “ Und überhaupt, wie kommst Du hier herauf? “ “ Die Menschen wollten mich auf einmal nicht mehr haben, obwohl ich schon so lange auf der Welt bin „, plärrte das kleine ß. “ Irgendeinen Grund muss es doch geben „, schnauzte Klothilde.“ Verdammt, hör auf zu flennen. Ich muss gleich regnen. In meinem Bauch rumort es schon vor lauter Regentropfen. Wenn Deine Tränen auch noch in mich reinrieseln, platze ich. Ich will es langsam angehn lassen. Schön Tröpfchen für Tröpfchen sauber verteilt auf die Erde, damit alle was davon haben.“ “ Ist gut „, schluchzte das kleine ß. Sein runder Doppelbauch wackelte noch ein wenig hin und her. Schliesslich stand er still.
Eine lange Pause entstand, in der man nur das Rumpeln in Klothildes Bauch vernahm.“ Blähungen, alles muss raus. Es wird Zeit für den grossen Regen „, grummelte der gewichtige Himmelskörper. “ Ein bisschen Zeit habe ich aber noch. Erst muss sich die Sonne verzogen haben, dann kanns losgehn. Na, nun erzähl mal der Tante Wolke die ganze Tragödie. Aber fasse Dich kurz. “ Wieder sprudelte und kullerte es in der Wolke drin. “ Ruhe! „, donnerte sie. Jetzt, Ihr Lieben, wisst ihr, woher der Donner kommt.
Das kleine ß klagte sein Leid. Tatsächlich gab es unter den Menschen einige, die der Meinung waren, dass das ß überflüssig sei. „Diesen Buchstaben braucht die Menschheit nicht. Das s genügt „, stellte ein bedeutender Wissenschaftler fest. Sofort gab es eine Reform, die das ß aus der Familie der Buchstaben entfernte. Daraufhin herrschte eine große Aufregung unter den Buchstaben. „Also, ich bin froh, dass das blöde ß endlich weg ist „, kreischte das eingebildete A. “ Es hat mir den ganzen Platz weggenommen. Jetzt kriege ich endlich wieder mehr Beachtung, denn ich bin der Anfang und deshalb am wichtigsten. “ “ Nö, ich „, brüllte das Z. “ Denn ich bin das Ende. Das ist am wichtigsten. Dass das dumme ß aber weg ist, finde ich auch gut. “ “ Ich auch „, murmelte das m. “ Und ich erst „, lallte das l, das mal wieder einen über den Durst getrunken hatte. “ Hatschi „, nieste das H. “ Ich bin erkältet. Daran ist das ß schuld. “ „Igittigittigitt „, schimpfte das I. “ Das ß ist so eklig mit seinem runden Doppelbauch.“ Alle nickten, alle lachten das kleine ß aus.
“ Aber ich bin doch auch wichtig „, flüsterte das kleine ß. “ Mich gibt es doch schon seit vielen, vielen Jahren. “ Wenn ich weg bin, sehen alle Wörter, in denen ihr drin seid, gleich aus. Ausserdem sind wir doch eine Familie.“ “ Och nee „, höhnte das O. „Mir kommen die Tränen.“ “ Weg mit Dir „, schrie das W. “ Und untersteh Dich, nochmal wiederzukommen “ dröhnte das U. “ Nix wie weg mit ihm „, zischelte das X. “ Entsetzlich ist dieses ß „, meckerte das E. “ So verhöhnten und verlachten die Buchstaben das kleine ß, packten es schliesslich und warfen es hoch hinauf in die Luft, wo es auf der dicken Klothilde landete.
Hier endete die traurige Geschichte des ungeliebten Buchstabens. Die graue Wolke hatte schweigend zugehört. Während das kleine ß erzählt hatte, war die Sonne allmählich am Horizont verschwunden. Ein leiser Regen fiel sacht auf die Erde. Das waren die ersten Tropfen, die Klothilde auf die Erde schickte. Langsam und bedächtig setzte sich Väterchen Mond in Bewegung und begann seine immerwährende Bahn über den weiten Himmel wie schon seit Urgedenken.
Klothilde rieb sich nachdenklich den Wolkenbauch, aus dem der Regen floss. “ Ach, jetzt gehts mir besser. Es rumpelt nicht mehr so in meinem Bauch „, stöhnte sie erleichtert. Ihre Laune verbesserte sich zusehends. Sie bekam grosse Lust, dem kleinen ß beizustehen. Ausserdem hatte die traurige Geschichte die sonst so schroffe Wolke angerührt. “ Ich kenne jemanden, der uns helfen könnte „, meinte sie zu dem kleinen ß, dass immer noch mit seinem niedlichen Doppelbauch auf ihr drauf sass. “ Wer denn? „, fragte es schüchtern. Doch Klothilde hatte schon das grosse breite Wolkenmaul aufgerissen. Laut brüllte sie in den Himmel hinein, dass es nur so durch das Weltall schallerte: “ Philandromia! “ Keine Antwort. Nochmal: „Philandromia! “
Und dann sauste er heran. Glühend. Feurig. In rasendem Tempo. Quer durch den Himmel. Philandromia, der schönste, strahlendste Komet, den die Welt je gesehen hatte. “ Mal ein ß an den Himmel „, rief ihm die Wolke zu. “ Los, mal ein ß. So gross, dass es die ganze Menscheit sieht. Du weisst, Phili, Du bist mir was schuldig. “ Vor hundert Millionen Jahren nämlich hatte die Klothilde dem Phili, als er noch ein winziger Komet war, tüchtig Regen zu trinken gegeben. Philandromia hatte sich nämlich im riesigen All verflogen und grossen Durst bekommen. Das hatte er der grauen Wolke nie vergessen.
Also tat er, wie ihm geheissen. Mit seinem wunderschönen hellen, strahlenden Schweif malte er ein riesengrosses ß quer über den ganzen Himmel. Wie leuchtete es! Keiner konnte es übersehen, kein Mensch, auch keiner aus der Buchstabenfamilie vom kleinen ß. Alle sahen staunend nach oben.
So schnell wie er erschienen war, so schnell war er auch wieder verschwunden, der Komet Philandromia. Das ß blieb aber noch lange am Himmel stehen, ehe es langsam verblasste. “ Danke, Phili „, rief Klothilde. Ein fernes Zischen war zu hören.
Dann herrschte Stille.
Ganz leise vernahm man von der Erde unten die Stimme eines Menschen: “ Das ß soll zurückkommen. “ “ Ja, das ß soll zurückkommen „, rief auch ein anderer Mensch. Und schliesslich riefen alle Menschen: “ Das ß soll zurückkommen. “ “ Wenn sogar ein millionenalter Komet weiss, wie ein ß geschrieben wird, dann muss es natürlich erhalten bleiben. Schliesslich hat es einen geschichtlichen Wert „, sprach ein bedeutender Wissenschaftler würdevoll. Es war derselbe, der vor kurzem noch für die Abschaffung des ß gewesen war. Na ja, so sind sie eben, die Wissenschaftler.
In den allgemeinen Chor der begeisterten Menschenstimmen mischten sich auch endlich die der Buchstaben. “ Los komm runter“, jauchzte die Schwester vom kleinen ß, das noch viel kleinere s. “ Ja nun komm „, nuschelte das n. “ Schätzchen, wir warten auf Dich „, schrie schon etwas ungeduldig das sch. “ Nun hüpf runter „, raunzte die Wolke, deren Bauch sich wieder mit neuen Regentropfen füllte. Es fing schon wieder an in ihrem Wolkenbauch zu grummeln. “ Du weinst ja schon wieder. “ “ Ja, aber vor Glück „, zirpte das kleine ß. Rasch gab es der dicken Klothilde einen Kuss auf die dicken Wolkenlippen. Die holte ein graues Taschentuch hervor. Laut schneuzte sie sich die breite Wolkennase. “ Nun hau aber ab „, schniefte sie rauh.
Da hüpfte das kleine ß auf die Erde. “ Endlich bist Du wieder da „, wisperte, tuschelte und lachte es quer durch die ganze Buchstabenfamilie. Sie fingen das kleine ß mit ihren Buchstabenarmen auf und setzten es wieder in ihre Mitte.
Und die Menschen? Sie freuten sich.
Daß du uns niemals wieder verläßt, liebes kleines ß.