Nah am Seerosenteich im Stadtpark lebte die Familie Schnatterich. Papa Schnatterich, Mama Schnatterich, Sohn Schnatterich und Tochter Schnatterich. Und damit fing der Ärger schon an. Der Ententochter nämlich genügte der Name Schnatterich nicht, sie wollte außerdem noch einen Vornamen haben, was bei Enten gemeinhin nicht üblich ist. “ Kordula will ich heißen“, schnatterte sie laut. “ Kordula!“ Mama und Papa gaben schließlich nach, um ihre Ruhe zu haben, friedlich im Teich nach Würmchen zu tauchen, die Entenpopos nach oben zu strecken, danach am Rande des Seerosenteiches im Gras zu dösen, kurz, das Leben in vollen Zügen zu genießen. Sohn Schnatterich war ähnlich friedlich veranlagt. Nicht so Tochter Schnatterich, Verzeihung, Tochter Kordula Schnatterich. “ Wie langweilig ist unser Leben“, quakte sie. “ Den ganzen Tag schwimmen wir herum, essen, schlafen. Das wars. Wieso haben wir eigentlich Flügel, wenn wir sie nie benutzen?“, lamentierte sie kreischend, dass man es überallhin hören konnte. Sprachs, breitete ihre Flügel aus und segelte los. “ Kind, bleib hier“, riefen die Eltern besorgt. “ Es ist so wunderschön hier oben“, schallte es glücklich vom Himmel herunter.
Mit heftigen Flügelschlägen überquerte Kordula den Seerosenteich, flog einfach geradeaus weiter, dann im Zickzack nach rechts, nach links, über Wälder und Städte. Es rauschte ordentlich in der Luft. Manchmal gefiel es der übermütigen Entendame, im Sturzflug dicht über die Köpfe der Menschen hinwegzubrausen, sodass sich diese erschrocken duckten. “ Ich bin Kordula, die mutigste Ente, die es je gab“, quakte es von oben. “ Seht Euch das an. Sowas haben wir noch nie gesehen. Das ist die wilde Ente Kordula“, riefen die Menschen ungläubig. Staunend blickten sie nach oben, wo Kordula mit weit vorgestrecktem Kopf und mächtigen Flügelschlägen dahinjagte.
Irgendwann aber wurde die wilde Kordula müde, sie befand sich gerade über einem großen, dunklen Wald, es hatte bereits zu dämmern begonnen. Die Ente verlangsamte ihren Flug. Erschöpft ließ sie sich auf einer hohen Fichte nieder. “ Hau ab“, piepste es unter ihr. “ Das ist mein Baum. Du hast hier nichts verloren.“ Ein hübscher Grünfink hockte unter ihr in seinem gemütlichen, warmen Nest, an seiner Seite die Frau Gemahlin, unter seiner Frau versteckten sich fünf flauschige, winzige, piepsende Grünfinkbabys in Mamas dichtem Federkleid. Alle blickten zornig nach oben zum Störenfried Kordula. Ein wenig hilflos schlug sie mit den Flügeln. “ Darf ich mich nur ein kleines Weilchen bei Ihnen ausruhen? Dann fliege ich weiter. Hätten Sie vielleicht auch ein oder zwei Baumkäfer für mich? Ich hab schrecklichen Hunger“, bat Kordula höflich. Immerhin hatte sie trotz ihres ungestümen Wesens ihre gute Kinderstube nicht vergessen. Auf diese bescheidene Anfrage hin überließ Familie Grünfink unserem Wildfang zwei übriggebliebene, nicht mehr ganz taufrische Käfer und luden sie ein, sich für ein Viertelstündchen in ihrem stabil gebauten Nest auszuruhen. Das war nett von der Vogelfamilie. Niemand ahnte bis dahin, dass ihnen diese freundliche Einladung das Leben retten sollte.
Kordula hatte es sich gerade bequem gemacht. Gesättigt, groß und mächtig, saß sie zwischen den Vögelchen, die ziemlich dicht an den Rand ihres Nestes gedrängt wurden. Aber sie hatten alle Platz. Kordula erzählte gedämpft schnatternd vom heimatlichen Seerosenteich, die Vogelschar hörte aufmerksam zu, das kleinste Grünfinkbaby schlief leise zwitschernd ein. Der Nachtwind wehte durch die dichten Bäume. “ Es ist Zeit zum Schlafen“, mahnte Mutter Grünfink. In diesem Augenblick ertönte in unmittelbarer Nähe ein furchtbares Geheul. Schrecklich laut. Schrecklich lang. Ein großes, unförmiges Tier kam direkt auf das Nest zugeflogen. Zwei gelbe, böse Augen funkelten die entsetzten Nestbewohner an. “ Die Eule Walpurga!“ schrie Vater Grünfink. Todesmutig schickte er sich an, das warme Nest zu verlassen und das riesige Eulenvieh anzugreifen. “ Bleib bei Deiner Familie. Sie brauchen Dich noch. Ich werde Euch verteidigen.“ Wer anderes als die wilde Ente Kordula konnte solche Worte von sich geben. Sie war nämlich nicht nur wild, sondern auch mutig. Treu war sie auch. Sie schüttelte ihre Entenfedern zurecht und erhob sich aus dem Nest. Dabei quakte sie laut. Das konnte sie gut!
Darauf war die gefräßige Walpurga nicht gefaßt. Sie war auf das Nest zugeflogen in dem Glauben, eine vor Angst zitternde Vogelfamilie vorzufinden, die sie im Handumdrehen zu verschlingen gedachte. Stattdessen kam ein Ungetüm an Ente in rasendem Flug auf sie zugestürmt, den Schnabel weit aufgerissen. Ein Gequake kam da raus in einer Lautstärke, sowas hat die Welt noch nicht gesehen, geschweige denn gehört. Bösewicht Walpurga wurde das dann auch zuviel. Sie hatte sich ein geruhsames Nachtmahl gönnen wollen, ohne viel Aufregung. Auf einen Kampf mit einer wildgewordenen Ente war sie nicht gefaßt. Gar noch ihr Leben riskieren wegen so ein paar Vögelchen, an denen sowieso nicht viel dran war? Nein, danke. Eule Walpurga machte eine elegante Kehrtwende und flog ziemlich mies gelaunt von dannen.
Ihr könnt Euch denken, liebe Kinder, wie dankbar und froh die kleine Vogelfamilie unserer mutigen Ente war. Sie luden sie ein, die ganze Nacht bei ihnen im kuscheligen Grünfinknest zu verbringen. Dazu bekam sie aus der eisernen Ration noch einige Käferchen extra zum schnabulieren.
Am folgenden Tag verbreitete sich rasch die Kunde von Kordulas todesmutiger Tat im ganzen Wald, sogar noch darüber hinaus, erreichte auch Mama, Papa und Sohn Schnatterich am Seerosenteich, die schon in großer Sorge waren wegen der so anders gearteten, verschwundenen Tochter. Wie stolz waren sie nun, als sie von ihrer ungeheuer mutigen Tat hörten. Wie freuten sie sich auf das Wiedersehen mit ihrer wilden Ente Kordula.