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Wenns beim Nachbarn zweimal klingelt

Kennt ihr das, liebe Betroffene, wenn auf einmal eure Klingel nicht mehr funktioniert? Ach was, die Klingel, denkt ihr. Es gibt Schlimmeres. Im Handumdrehen ist die doch wieder repariert. Man muss nur die richtigen Drähte und Kabel erwischen. Schon klappt es wieder mit der Klingel.
So kindlich unschuldig dachte ich auch, als meine Klingel streikte. Es fing ganz harmlos an. Mein Bruder wollte mich zu einer Spritztour in seinem Auto abholen und klingelte bei mir. Doch nicht ich trat aus der Tür, sondern mein Nachbar. „Eigentlich wollte ich meine Schwester abholen und nicht Sie“, meinte mein Bruder erstaunt. „Ich wollte auch gar nicht bei Ihnen mitfahren“, entgegnete mein schlagfertiger Nachbar. „Ich kenne Sie ja gar nicht.“ „Was ist denn los?“, fragte ich besorgt. Inzwischen war ich auch aus der Tür getreten. Der etwas laute Wortwechsel war nicht zu überhören gewesen und hatte mich herausgelockt. „Ich habe bei dir geklingelt. Aber du hast es nicht gehört“, sagte mein Bruder vorwurfsvoll. „Bei mir hat es nicht geklingelt“, verteidigte ich mich wahrheitsgemäß. „Aber bei mir hat es geklingelt“, sagte mein Nachbar.
Uns ging allmählich ein Licht auf. Die Klingel war wahrscheinlich kaputt! Mein Bruder klingelte bei meinem Nachbarn. Man hörte es laut und deutlich. Dann klingelte mein Bruder bei mir. Auch jetzt hörte man es laut und deutlich bei meinem Nachbarn.
Wir nahmen es gelassen zur Kenntnis, denn eine Klingel lässt sich durch fachgerechte Behandlung problemlos reparieren und wieder funktionstüchtig machen.
Eine Woche später kam der von unserer Hausverwaltung bestellte Klingelmann. Zuerst klopfte er bei mir an der Tür. Die Klingel ging ja nicht. Noch nicht. Das dachte ich jedenfalls. Der Klingelmann trat bei mir ein. Er war sehr nett. „Haben Sie eine Katzenallergie?“, fragte ich fürsorglich. „Nein“, meinte er freundlich und streichelte meine zwei Katzen, die ihm um die Beine strichen. Dann holte er eine meterlange Gebrauchsanweisung hervor und studierte sie gründlich. „Wie repariere ich eine Klinge effektiv und nachhaltig? Hilfreiche Tipps für den Fachmann“, stand vorne drauf.
Das Studium der Gebrauchsanweisung dauerte ungefähr eine Stunde. „Wo haben Sie denn ihren Handwerkerkoffer?“, erkundigte ich mich vorsichtig. Ich wollte ihm nicht zu nahe treten. „Hier steht er doch“, erwiderte er ein wenig ungeduldig, denn er fühlte sich beim Lesen gestört. „Der ist aber klein“, konnte ich mich doch nicht enthalten zu erwidern. „Ich bin mit dem Bus gekommen. Ein Auto besitze ich nicht“, war die zerstreute Antwort. Mein schnurrender Kater spielte an dem Köfferchen herum. Der Verschluss sprang auf. Der Klingelfachmann hatte wirklich nur das nötigste mitgenommen: Zahnbürste, Handtuch, Waschlappen und einen Kabelbinder. Den nahm mein Kater sofort ins Schnäuzchen und knabberte daran herum. „Lass das. Das brauche ich noch“, befahl ihm der lesende Handwerker mit milder Stimme. Endlich legte er die Gebrauchsanleitung aus der Hand. Er öffnete meinen Klingelkasten mit meiner Nagelfeile, die ich ihm auf sein Bitten hin gebracht hatte. Viele Drähte wurden sichtbar. „Hm“, machte der Klingelmann. Und dann nach einer langen Pause nochmal. „Hm.“ Es entstand wieder eine längere Pause, in der man lediglich das Rascheln der erneut zu Hilfe genommenen Gebrauchsanleitung vernahm.
Mein Kater und seine kleine Schwester begannen sich um den einen Kabelbinder zu streiten. „So kann ich nicht arbeiten“, stellte der Handwerker fest. „Möchten Sie mit uns Abendbrot essen?“, fragte ich gastfreundlich, denn der Tag neigte sich inzwischen seinem Ende zu. „Nein danke, ich muss jetzt auch zu meinem Bus gehen“, entgegnete der Klingelmann erschöpft vom vielen Lesen. Er nahm meinem Kater den Kabelbinder aus dem unwilligen Mäulchen. „Aber vorher probiere ich noch aus, ob ihre Klingel wieder geht“, machte er mir unerwartet Hoffnung. Zwei von den zahlreichen Drähten verknotete erstaunlich geschickt. Dann ging er nach unten und klingelte bei mir. Mein Nachbar trat aus der Tür und nicht ich. „Bei mir hat es geklingelt“, meinte mein Nachbar. „Bei mir nicht“, sagte ich. „Morgen schicke ich ihnen einen Kollegen“, rief unser Klingelmann von unten. „Der hat ein Auto und bringt Messgeräte mit.“ „Wie schön. Dann klappt es bestimmt“, riefen mein Nachbar und ich wie aus einem Mund. Ich warf dem Klingelmann seinen Koffer in die weit ausgebreiteten Arme.
Am nächsten Tag kam der Kollege mit Auto und Messgeräten. Er arbeitet und werkelte den ganzen Tag wie verrückt. Er war nicht so nett wie sein busfahrender Kollege. Er schraubte und bohrte an unseren Klingeln herum. Mein Nachbar und ich unterhielten uns inzwischen über dies und das, um die Zeit zu überbrücken. „Reden Sie nicht dauernd, sonst höre ich das Klingeln nicht“, unterbrach uns der Klingelfachmann Nummer zwei unfreundlich. „Das liegt doch nicht an uns. Sie hören das Klingeln nicht, weil es nicht klingelt. Deswegen sind Sie doch hier“, antwortete mein ansonsten sehr netter Nachbar etwas ungehalten. „Ich gehe jetzt nach unten und probiere die Klingeln aus“, informierte uns der Klingelmann. „Wie heißen Sie nochmal mit Nachnamen?“, fragte er meinen Nachbarn. „Hab ich vergessen“, erwiderte der, denn er war sauer. „Das finde ich schon heraus“, meinte der Klingelmann. Er ging nach unten und klingelte bei ihm. „Klingelt es bei Ihnen?“, rief er zu meinem Nachbarn hoch. „Ja“, rief der nach unten. Der Klingelfachmann klingelte wieder diesmal bei mir. „Und jetzt?“, ertönte seine Stimme. „Jetzt klingelt es auch bei mir“, schrie mein an und für sich sehr umgänglicher und humorvoller Nachbar und knallte die Tür hinter sich zu.
„Was hat er denn?“, wunderte sich der Klingelmann, der jetzt wieder bei mir war und seine Gerätschaften an sich nahm. „Morgen komme ich wieder und werde alle Wohnungen gründlich untersuchen“, versprach er. „Irgendwo muss der Fehler ja liegen“, sinnierte er noch kurz, ehe er nach unten ging, sich in sein Auto setzte und davonbrauste.
Ich ging zurück in meine Wohnung, widerstand der Versuchung, mal kurz und kräftig gegen meinen Klingelkasten zu treten und war froh, endlich die Wohnung wieder für mich und meine beiden Katzen zu haben. Bis morgen.

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