Das Kaninchen Lore war sehr weiß und sehr schön. Alles an ihm war gleichmäßig nahezu perfekt geraten. Die Ohren hatten den richtigen Abstand zum Mund, der Mund zur Nase und die Nase zu den klugen Kaninchenaugen. Denn Lore war wirklich klug. Und Lore war verliebt. In ihrem Käfig wohnten noch zwei andere Kaninchen. Sie, die Lore, dann noch Hortensia, eine bereits etwas betagte aber äußerst attraktive Kaninchendame und Hannes, der Kaninchenmann, der ebenso schön und klug war wie Lore. Auch sie waren weiß. Hannes war so sehr verliebt in Lore wie die Lore in ihn. Sie balgten sich, kreisten spielerisch umeinander und berührten zwischendurch immer wieder zärtlich ihre weichen Schnauzen. Hortensia mümmelte Heu und schielte zwischendurch hin und wieder zu den beiden Turteltäubchen hinüber. Ihr habt richtig gehört, liebe Kinder. Hortensia schielte ein wenig. Sie war vom Aussehen her nicht ganz so perfekt wie Lore und Hannes. Aber sie war herzensgut.
Der Käfig der drei weißen Kaninchen stand nicht allein auf dem riesigen Gehöft, das grau und einsam im Gelände stand. Dicht neben dem Käfig stand noch ein Käfig und dann noch einer und noch einer. Ein Käfig stand neben dem anderen so weit das Auge reichte. In jedem der Käfige, die ziemlich eng waren, wohnten jeweils drei Kaninchen. Alle waren schneeweiß. Alle sahen wunderschön aus. Alle waren herzensgut. Das war ein Glück. Denn sie mußten sich vertragen, sonst wäre ihr Leben in der Enge und Trostlosigkeit der Käfige unerträglich geworden.
Das Gehöft gehörte einem sehr reichen Mann, der auf diesem alleine lebte. Ihm gehörten die Kaninchen. Durch sie war er so reich geworden. Jahr für Jahr nämlich fand in der großen Stadt weit weg von seinem Gehöft eine Kaninchenmesse statt. Viele hundert Kaninchen wurden dort in kleinen Käfigen ausgestellt. Die Käfige waren so klein, damit sich das jeweilige Kaninchen, welches darin saß, nicht bewegen konnte. So vermochten es die Besucher in Muße zu betrachten ungeachtet der Qual der Tiere. Die zehn schönsten Kaninchen bekamen einen Preis im Wert von einer Million Dollar. Jahr für Jahr gewann der reiche einsame Mann den Preis. Seine Kaninchen waren immer die schönsten.
Nun arbeitete er in diesem Jahr wieder auf die Messe hin, die in vier Wochen stattfinden sollte. Jeden Tag von morgens bis abends stellte er sich dicht vor die Käfige, öffnete eine Käfigtür nach der anderen, zerrte die Kaninchen eins nach dem anderen heraus, wog, maß und untersuchte sie gründlich, ob auch ja alles perfekt an ihnen war. Stimmte der Abstand etwa zwischen den Ohren nicht oder die Schnauze war zu klein oder die Nase zu breit, wurde kurzer Prozeß gemacht. Er packte das unglückselige Kaninchen, das verzweifelt um sein Leben zappelte, warf es in den großen Fluß, der unmittelbar am Gehöft entlang floß und ließ es ohne jede Gnade darin ertrinken. Dieses grausame Tun geschah also von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Manchmal wurde es so spät, daß der Mond am Himmel zu sehen war, der unbemerkt groß und still seine Bahn zog. Unter ihm war das Wimmern der weißen Kaninchen zu hören, die um ihre Verwandten trauerten, voller Angst auf den nächsten Tag wartend, der vielleicht für sie dasselbe Schicksal bereit hielt.
An einem der nächsten Tage also stand der reiche Mann besonders lange vor dem Käfig von Lore, Hannes und Hortensia. Er grinste. „Was für Prachtexemplare ihr drei seid“, stellte er lachend fest. Er schnappte sich Hannes und Lore und hielt sie in die Luft, drehte sie hin und her, untersuchte sie von allen Seiten. „Ihr seid perfekt“, rief er mit seiner groben Stimme. „Ihr kommt auf jeden Fall in vier Wochen mit auf die Messe.“ Wie waren die beiden verliebten Kaninchen froh, konnten sie doch sicher sein zusammen bleiben zu dürfen. Der Mann griff mit Schwung in den schmalen Käfig und holte Hortensia hervor, die sich ängstlich in eine Ecke des Käfigs gedrückt hatte, ahnte sie doch ihr Schicksal voraus. Der Mann hob Hortensia in die Höhe. „Du bist auch perfekt“, sagte er kurz. „Leider schielst du zuviel, meine Gute. Und zu alt bist du auch.“ Er lachte wieder und warf Hortensia in den Fluß, in dem sie gurgelnd unterging. Dann wischte sich ihr Peiniger die Hände an seinen Hosen ab und ging ins Haus.
Unterdessen war es tiefe Nacht geworden. Lore und Hannes weinten bittere Tränen um ihre Freundin, die treue Hortensia, die nun im Fluß dahin trieb. Der Mond ging langsam unter. Schließlich verschwand er ganz.
Es dauerte fast vier Wochen, bis er wieder leuchtend und rund des Nachts am Himmel seine stillen Bahnen zog. Es war die Nacht, bevor es früh am nächsten Tag losgehen sollte in die große Stadt zur berühmten Kaninchenmesse. Der reiche Mann machte einen letzten Kontrollgang zu den Käfigen. Noch einmal öffnete er eine Käfigtür nach der anderen. Ganz zum Schluß stand er vor dem Käfig von Lore und Hannes, die eng aneinander geschmiegt dalagen. Ihre empfindsamen Kaninchennasen zitterten nervös. „Na schon aufgeregt?“, lachte der Mann, zog die beiden nacheinander heraus und überprüfte ihren Körperbau, ob er auch tadellos war. Schon wollte er sie wieder zurück in den Käfig setzen, da bemerkte er, daß das rechte Ohr von Hannes ein kleines bißchen kürzer war als das linke Ohr. Eigentlich war es mit bloßem Auge kaum zu erkennen gewesen, aber der reiche Unhold hatte immer seine Lupe dabei. „Oha!“, brüllte er mit schallendem Gelächter. „Da wärst du ja fast ungeschoren davongekommen, du Viech du.“ Mit derber Hand umschloß er den zarten Kaninchenkörper von Hannes und stapfte mit finsterem Gelächter zum Fluß. Lore schrie in ihrem Käfig laut und gellend in die schweigende Nacht, in der nur das Brodeln des Flusses zu hören war. Der Mann war mit Hannes aus ihrer Sichtweite verschwunden. Ein Kaninchen schreit eigentlich nie. Wenn es schreit, vergißt das niemand mehr, nicht die Erde, nicht die Sonne, nicht der Mond.
Der Mond hatte schon jahrelang dem grausamen Treiben des reichen Mannes zugesehen. Zu oft hatte er die furchtbaren Schreie der Kaninchen mit anhören müssen, hatte ihre Qualen mit angesehen. Häufig war er dann hinter einer dunklen Wolke verschwunden. In dieser Nacht, in der Hannes sterben sollte, hatte der Mond jemanden mitgebracht. Es war der große schwarze Hase, den man hin und wieder auf dem Mond entdecken kann, wenn die Nacht klar ist und wenn man ganz genau hinschaut.
Als Lore in ihrer Not so laut schrie und allmählich alle anderen weißen Kaninchen in das Schreien mit einfielen, daß es einem das Blut in den Adern erstarren ließ, da ließ sich der Mond in seiner ganzen Pracht am Himmel blicken und mit einem Riesensatz sprang der große schwarze Hase hinunter auf die Erde genau auf die Stelle am Fluß, wo gerade der böse Mann den angstvoll zappelnden Hannes hineingeworfen hatte. Der Mondhase war nicht so zartgliedrig wie seine ferne Verwandtschaft. Er hatte eine ungeheure Kraft, überragte den Mann um das tausendfache, hatte Pfoten wie aus Stahl, konnte schnell sein wie der Wind, konnte mit zwei Riesensätzen die ganze Welt umrunden.
Mit einem Hieb seiner furchteinflößenden Pfote streckte er den bösen reichen Mann zu Boden, hob ihn empor und schleuderte ihn hinauf auf den Mond, der einen seiner tiefen Krater öffnete, die reichlich auf ihm vorhanden sind, und den Mann darin für immer verschwinden ließ.
Der machtvolle Hase tauchte seine Pfote in den Fluß. Vorsichtig zog er den halbtoten Hannes daraus hervor und hielt ihn an sein Herz. Niemand weiß davon, aber der mächtige Mondhase hat nicht nur einen riesigen Körper. Er hat auch ein riesengroßes Herz. In diesem Herz befindet sich eine Perle, die kostbarer ist als alles, was es gibt auf der Welt. Als das immer noch vor Todesangst zitternde Kaninchen an dem Herzen des großen schwarzen Hasen lag, hörte es wie die Perle tief in dem Herzen leise sang und tönte. Das klang so ergreifend und lieblich, wie man es sich nicht vorstellen kann. Hannes wurde ruhig. Er hatte keine Angst mehr. Behutsam setzte der Mondhase das Kaninchen wieder auf die Erde nah am Fluß. Dann wandte er sich um. Er brauchte nur seine Pfoten auszustrecken. Schon erreichte er ohne Mühe sämtliche Käfigtüren und öffnete sie alle. Dann machte er einen mächtigen Sprung und landete mit einem Satz wieder auf dem schweigenden Mond.
Die Nacht war jetzt am tiefsten. Es wurde sehr kalt und auf dem Fluß bildete sich allmählich eine dicke Eisschicht. Die befreiten Kaninchen hoppelten erschöpft aber froh über ihre Befreiung hinunter zum Fluß, wo Hannes auf sie wartete. Wie freute er sich wieder mit seiner Lore vereint zu sein! Langsam sprang ein weißes Kaninchen nach dem anderen auf die große Eisscholle auf dem Fluß, die stark genug war um sie alle zu halten und zu tragen. Unter der Eisscholle war ein stetiges Rauschen zu hören. Die Kaninchen blickten hinunter. Erstaunt und voller Freude erblickten sie unter der Eisscholle alle ihre Freunde, die von dem bösen reichen Mann in den Fluß geworfen waren. Vom ruhigen warmen Wasser umfangen trieben sie dahin. Auch Hortensia war dabei. So trug sie der Fluß mit sich fort. Die weißen Kaninchen auf der Eisscholle und die weißen Kaninchen unter ihr.
Alle in eine Richtung.