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Das Kätzchen Gethsemane

Für die kleine unbekannte Katze, der wir nicht helfen konnten.

Das Kätzchen Gethsemane

Das Kätzchen Gethsemane wurde eines frühen Morgens nah am Meer geschützt hinter den hohen Dünen geboren. Nach ihm purzelten noch vier weitere Katzenkinder aus der Katzenmama heraus. Fürsorglich gab sie ihren Babys zu trinken und ließ sie dann dicht an sich gekuschelt ruhen. Aufmerksam wachte sie über den Schlaf ihrer Kinder. Näherte sich ihnen ein hungriger Raubvogel, wurde er fauchend von der mutigen Katzenmutter vertrieben.
Die Kleinen spielten, tranken, tollten in den hohen Dünen herum und genossen ihr sorgloses Katzenkinderleben. Niedlich sahen sie aus. Am hübschesten aber war Gethsemane. Ihr Fell war von edlem schwarzgrau, die Katzenhaare lang und seidig. Ihre Augen waren von kindhaftem blau. Als die fünf Katzenkinder drei Monate alt waren, erlaubte ihnen die Mama, etwas längere Ausflüge zu unternehmen. Das taten die fünf Knirpse begeistert und übermütig. Gethsemane jagte mit ihren Geschwistern am Meer entlang. Sie ließen sich von den Wellen naß spritzen und rasten fröhlich maunzend zurück hinter die Dünen, wo sie sich quieksend auf dem Rücken herumwälzten und ihr Fell trockneten. Dann schmiegten sie sich an ihre Mutter, die das muntere Treiben geduldig aus der Ferne beobachtet hatte, und schlummerten ein.
Gethsemane aber hatte noch keine Lust an der warmen Mama zu dösen. Neugierig rannte sie auf die andere Seite der Dünen um zu erkunden, was dahinter lag. Die Mutter stieß einen kurzen warnenden Schrei aus, ließ ihre Älteste jedoch gewähren, vertraute deren Instinkt.
Mit hohen Sprüngen sauste Gethsemane durch das hohe Dünengras, das im frischen Meereswind wogte und sich über sie neigte. Die Sonne schob sich immer wieder durch die dahinjagenden Wolken hindurch und wärmte die neugierig emporgereckte Nase der kleinen Katze. Diese hatte nun das Ende der Dünen erreicht. Hinter ihnen schlängelte sich ein langes schmales graues Band. Das war die Straße. Rechts und links standen hingeduckt einige wenige Häuser. Noch nie hatte Gethsemane eine Straße gesehen. Wie schön leicht lief es sich auf dem glatten Asphalt. Emsig trippelte sie voran, gewahrte auf einmal ein riesiges laut knatterndes Ungetüm dicht vor sich, wollte entsetzt ausweichen…zu spät. Sie spürte einen schmerzenden Schlag an ihrem Katzenkörper und wurde zur Seite geschleudert. Das knatternde Ungetüm brauste weiter. Gethsemane blieb auf einem schmalen grünen Rasenstück in der Nähe eines braun angestrichenen Gartenzauns liegen. Schwach hob sie das schwarzgraue Köpfchen, wollte miauen, nach ihrer Mutter rufen, nach den Schwestern und Brüdern. Aber sie brachte keinen Laut hervor. Zu sehr war sie von der Verletzung tief in ihr drin geschwächt. Merkwürdigerweise sah sie äußerlich fast unversehrt aus. Nur an den fest geschlossenen Augen erkannte man die Qualen, die die junge Katze durchlitt.
Tage und Nächte lag sie da, ein kleines schwarzgraues Knäuel, hingekauert in dem spärlichen grünen Gras, das sie nicht schützen konnte. Niemand bemerkte das leidende Tier. Achtlos gingen die Menschen an ihm vorüber. In raschem Tempo fuhren die Autos an ihm vorbei.
Tagsüber brannte die Sonne unbarmherzig auf das winzige fellige Bündel herab. Nachts fegte ein kalter Wind über das Tier. Gethsemane erduldete es, atmete und lebte tapfer weiter, obwohl sie Schmerzen, Hunger und Durst, quälten. Wo war bloß ihre Katzenmutter? Wo ihre Geschwister? Hatten sie sie vergessen?
Einige Tage später fuhr ein großer Traktor die Straße entlang. Der Fahrer blickte finster und freudlos auf die Straße hinunter. Das Leben hatte es offensichtlich nicht gut mit ihm gemeint. Alles, was schön hätte sein können, war aus seinem Gesicht gewichen. Es war derb geworden, häßlich und grausam. Plötzlich bremste er dicht neben dem erschöpften Kätzchen. „Was ist denn das für ein Drecksviech?“, fluchte er laut. Ohne Gnade betrachtete er für einen kurzen Augenblick das schwer atmende Tier.
Gethsemane spürte mit einem Mal den Blick des großen hageren Mannes auf sich, schöpfte für einen winzigen Moment Hoffnung. Wie gern würde sie leben! Wie gern an ihrer Mutter trinken! Wie gern noch viele Tage und Jahre mit ihren Brüdern und Schwestern durch die Dünen tollen, die Strahlen der wärmenden Sonne fühlen, die sanfte Meeresbrise spüren!
Taumelnd erhob sich die kleine Katze, ging auf unsicheren Pfötchen einige wenige Schritte auf den Mann zu, um ihm mit allerletzter Kraft nach Katzenart schmeichelnd um die Beine zu streichen. Sie machte kurz die blauen Augen auf und sah zu ihm hoch. Dann öffnete sie das Mäulchen und miaute leise. Für einen atemlosen Augenblick geschah nichts.
Dann jedoch holte der Mann aus. Mit voller Wucht trat er in das kleine Katzenhinterteil. Gethsemane flog ein Stück vorwärts und blieb reglos liegen. Mit der rechten Hand hob der Mann das schwarzgraue Bündelchen hoch, öffnete die Tür des Traktors und schleuderte den Katzenkörper, der immer noch atmete, auf den Boden des Traktors neben dem Fahrersitz. Anschließend stieg er ein und fuhr los. Bei sich auf seinem trostlosen Bauernhof angekommen, packte er Gethsemane und brach ihr das Genick. Das aber spürte sie nicht mehr, denn im Traktor auf dem Boden liegend hatte sie während der Fahrt bereits aufgehört zu atmen.
Fernab auf dem verlassenen Rasenstück war nicht einmal mehr ein Abdruck von Gethsemane zu erkennen, so leicht war sie gewesen. Es war ruhig und still. Nur ein kleiner Schmetterling, ein Pfauenauge, saß auf dem braun angestrichenen Gartenzaun. Er saß nur kurz da. Dann erhob er sich, breitete die zarten Flügel aus, die für einen winzigen Moment in der Sonne glänzten, und flog davon.

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