Sammy. Der Löwe mit der schwarzen Mähne
Kindergeschichten— geschrieben von stoffel @ 22:49
Als der Löwe Sammy in Gefangenschaft geboren wurde, staunten die Menschen, die ihn betrachteten, denn er hatte eine schwarze Mähne, was sehr ungewöhnlich und einmalig war. Überhaupt war er ein liebes, verschmustes Löwenbaby. Sehr bald interessierte sich eine Familie für ihn, bezahlte viel Geld und nahm ihn mit nach Hause. Der kleine Löwe wollte aber nicht. Er wollte bei seiner Mama bleiben. Er strampelte und wehrte sich. Die Menschen lachten, weil es so niedlich aussah. Helfen tat es ihm sowieso nichts. Die Familie hatte ihn adoptiert. Basta.
Anfangs ging es dem kleinen Löwen recht gut. Die Kinder spielten mit ihm im Garten, streichelten ihn, tollten mit ihm rum. Er bekam ein Kuschelkörbchen. Genug zu fressen und zu trinken hatte er auch. Allmählich ertrug er den Kummer und das Heimweh nach seiner großen, warmen Löwenmutter.
Doch die Zeit ging dahin. Sammy wurde größer, seine Krallen schärfer. Beim ausgelassenen Spiel mit den Kindern zerkratzte er sie manchmal versehentlich ein wenig. Die Kinder waren inzwischen ebenfalls herangewachsen. Das Spielen mit dem Löwen langweilte sie. Wenn seine Krallen sie verletzten, heulten sie los. “ Wir wollen den blöden Sammy nicht mehr haben „, jammerten sie. Deshalb wurde Sammy von einem Großhändler für viel Geld eingekauft. Seine prächtige schwarze Mähne bewahrte ihn vor einem grausamen Dasein in einem Abschußreservat, denn die Menschen waren nach wie vor von seiner seltenen Mähne begeistert und bereit, dafür zu zahlen, um das ungewöhnliche Tier betrachten zu dürfen. Also verkaufte der Großhändler den Sammy für eine beträchtliche Summe an ein Naturreservat.
Jetzt begann für den Löwen die glücklichste Zeit seines Lebens. Er durfte in Freiheit leben, verliebte sich in eine hübsche Löwin und gründete mit ihr eine Familie mit fünf süßen Löwenbabys. Allerdings hatte keines von ihnen eine schwarze Mähne. Die hatte nur der Löwenpapa.
Wenn die Menschen auf Safari waren und den Löwen mit der schwarzen Mähne erblickten, kreischten sie vor Begeisterung, fotografierten ihn und versuchten ihn zu streicheln. Da Sammy bis jetzt nie etwas wirklich Schlimmes erlebt hatte, ließ er es sogar geschehen. Die Menschen liebten ihn und er liebte die Menschen.
Doch eines Tages las ein reicher Mann, der in einer Millionenstadt lebte, wie üblich die Zeitung. Da fiel ihm ein Bericht auf, der von dem Löwen Sammy erzählte. Dieser Löwe, so stand in dem Bericht, war mit seiner schwarzen Mähne nicht nur von großer Schönheit, sondern er war auch von einer außergewöhnlichen Sanftmut, die man sonst von Tieren seiner Art nicht kannte. Er war die große Attraktion im Naturreservat.
“ Den will ich haben „, dachte der reiche Mann. Er setzte sich an den Schreibtisch und fing an sein Geld zu zählen. Dabei schaute er ab und zu an die Wand gegenüber. Sie war weiß und leer. “ Bald wird dort der Kopf des Löwen mit der schwarzen Mähne hängen „, dachte der Mann. “ Ich werde ihn töten. Dann werden alle Leute meinen Mut bewundern. Ich werde berühmt werden und noch viel reicher sein. “ Er war jetzt bei 50000 Dollars angekommen. Die nahm er, reiste damit in das Naturreservat, in dem Sammy lebte, und gab das Geld dem Mann, der das Naturreservat leitete. “ Dafür will ich den berühmten Löwen Sammy jagen und erschießen. Seine schwarze Mähne will ich als Trophäe an meine weiße Wand zu Hause hängen „, erklärte er dem Leiter.
“ Das ist nicht erlaubt „, antwortete der. Dabei starrte er auf das Geld. “ Sie können sich davon ein neues Auto kaufen oder zwei oder drei „, lachte der Mann. Da nahm der Leiter das Geld. Dem reichen Mann gab er ein Gewehr. Sie warteten die Nacht ab, um ungestört mit ihrem finsteren Treiben beginnen zu können.
Als es endlich dunkel war, setzte sich der Mann mit seinem Gewehr neben den Reservatsleiter in dessen Geländewagen. Der fuhr los geradewegs zu dem Ort, an dem sich Sammy mit seiner Familie aufhielt. Denn er wußte ja, wo die Löwenfamilie lebte, wußte, daß Sammy ihm vertraute.
Einige Stunden später waren sie angelangt. Richtig. Dort in der grauschwarzen Nacht bewegten sich sacht die Tiere wie sanfte Schatten. Sammy ruhte neben seiner Löwenfrau, berührte sie zärtlich mit seiner weichen Pfote. Die fünf kleinen Babys tollten um sie rum. “ Sammy, komm her „, rief der Leiter. Sammy tat wie ihm geheißen, kannte er doch die Stimme, vertraute ihr. Er näherte sich neugierig dem Auto, kam näher und näher.
Ein furchtbares Geräusch zerfetzte die Nacht, ein ohrenbetäubender Knall zerriß für immer ihre Ruhe. Sammy sackte in sich zusammen. Ungläubig war sein Blick, mit dem er die beiden Männer ansah. Ungläubig und zum ersten Mal voller Angst. Der reiche Mann stand hochaufgerichtet im offenen Wagen. Das Gewehr hielt er triumphierend in die Höhe. Er lachte.
Noch war der stolze schöne Löwe nicht tot. Seine Schulter war getroffen. Mühsam richtete er sich auf, floh, hetzte mit letzter Kraft durch die Savanne. “ Die Jagd beginnt „, jubelte der reiche Mann. Der Geländewagen fuhr hinter dem verletzten Tier her. Die Löwenfamilie blieb in der dunklen Nacht zurück. Verloren und einsam.
Vierzig Stunden dauerte die grausame Jagd. Sammy, geschwächt durch den Schuß, rannte um sein Leben, verbarg sich zwischendurch hinter den Hügeln, um ein wenig auszuruhen. Doch die Todesangst trieb ihn weiter. Das Blut, daß er unterwegs verlor, war für die beiden Männer eine deutliche Spur. “ Dahinten rennt er „, brüllte der reiche Mann begeistert, legte das Gewehr an, zielte und schoß. Diesmal traf er das verzweifelte Tier an seiner linken Pfote. Jetzt kam Sammy noch mühsamer vorwärts, konnte nur noch humpeln.
Doch er gab nicht auf. Die Jagd ging weiter, dauerte noch einen Tag und eine Nacht. Hunger, Durst und Erschöpfung quälten den Löwen immer mehr. Doch er lief weiter. “ Dahinten ist der Schwarzmähnige ja wieder „, lachte der reiche Mann. Wieder legte er das Gewehr an.
Diesmal traf er. Er traf Sammy mitten ins Herz. Der Löwe ging zu Boden. Er war sofort tot. Die Männer fuhren an ihn ran und stiegen aus dem Wagen. Der reiche Mann schnitt seinen Kopf mit der schwarzen Mähne ab und zog ihm das Fell vom Körper. “ Los, wir verschwinden „, zischte der Leiter. “ Der Tag bricht bald an. Die Menschen dürfen uns nicht sehen. “
Sie fuhren weg. Den Kadaver ließen sie zurück. In einer schweigenden Nacht.
Als die Welt von der tödlichen Jagd auf Sammy erfuhr, breitete sich Entsetzen aus und Trauer. Die Menschen erfuhren auch, wer der Mann war, der den Löwen so grausam zugerichtet hatte und wer ihm dazu verholfen hatte. Doch der Mann blieb ungestraft. Das Gesetz schützte ihn. Ebenso schützte es seinen Helfershelfer.
Der reiche Mann kehrte in seine Heimatstadt zurück. Den Löwenkopf mit der schwarzen Mähne nagelte er an die weiße leere Wand. Das Fell hängte er daneben auf. Anschließend betrachtete er mit Genugtuung sein Werk, ging hinunter ins Eßzimmer und aß mit seiner Frau zu Abend. Nach dem Essen setzten sie sich an den Kamin und tranken Rotwein. Stolz erzählte der Mann von seiner Treibjagd. Sammys Kopf mit der schwarzen Mähne und das Löwenfell zeigte er seiner Frau kurz vor dem Zubettgehen. Er war sehr zufrieden.
Schließlich lagen die beiden in ihrem großen weichen Bett. Der Mann löschte das Licht. Er gähnte und fiel in einen kurzen tiefen Schlaf. Doch jäh schreckte er hoch. Irgendetwas hatte er wahrgenommen, eine schattenhafte Bewegung an der Wand gegenüber. Hell schien der Mond ins Fenster, ungewöhnlich hell. Selbst durch die heruntergelassenen Jalousien hindurch blendete er seine Augen. Ärgerlich kniff er sie zusammen. “ Was für eine dumme Einbildung „, dachte er. Er schickte sich an weiterzuschlafen. Doch die Bewegung an der Wand wurde stärker. Wütend machte er die Augen weit auf, obwohl das Mondlicht grell hineinschien. Er blickte auf die Wand. Und erstarrte. Ein riesiger schwarzer Schatten jagte dort entlang. Ganz unzweifelhaft war es der Schatten eines Löwen, der mit ungeheurer Kraft dahinraste. Und ganz unzweifelhaft war es Sammy. „Der Schwarzmähnige „, murmelte der Mann. “ Ich träume ja „, fügte er in Gedanken hinzu. Er wollte lachen. Doch es blieb ihm im Halse stecken, denn der große Schatten wandte sich um und sah ihn an, hörte aber dabei nicht auf zu rennen, rannte schneller und schneller. Schließlich hatte der Schatten des Löwen ein so hohes Tempo erreicht, daß er sich langsam von der Wand zu lösen schien. Die Augen des Tieres, die den Mann im Bett die ganze Zeit ansahen, glänzten gelb, scharf und gefährlich inmitten der riesigen schwarzdunklen Erscheinung. Jetzt hatte der Mann richtige Furcht. Er wußte, daß das kein Traum war. Er rüttelte seine Frau. “ Wach auf „, schrie er. Doch sie antwortete nicht.
Panische Angst hatte jetzt von ihm Besitz ergriffen, denn Sammys Schatten hatte sich nun vollständig von der Wand gelöst und bewegte sich unablässig auf ihn zu. Er sprang aus seinem warmen Bett, rannte aus dem Haus, rannte über die nachtfeuchte Wiese. Sein Atem ging keuchend, die Brust schmerzte. Der Schatten des Löwen jagte hinter ihm her. Groß und mächtig. Die Mähne bildete riesige dunkle Zacken, die fast bis in den Himmel hineinzuragen schienen.
Der Mann hatte nun die Stadt hinter sich gelassen. Er rannte über ein großes weites Feld, verfolgt von dem Schatten des Löwen. “ Dahinten ist ja eine Gestalt „, dachte er erleichtert. Er bekam kaum noch Luft. Mit letzter Kraft lief er auf die fremde Gestalt zu, die mitten auf dem Feld auf einem Stuhl saß. “ Helfen Sie mir. Ich werde verfolgt „, stöhnte er, der kaum noch Herr seiner Sinne war. Er stand mit zitternden Beinen direkt vor der Gestalt. Doch sie rührte sich nicht. Noch näher trat er an sie ran. Da sah er, daß sie ganz und gar in ein graues Tuch gehüllt war. Verzweifelt versuchte er, das Tuch von ihr wegzureißen. Es gelang ihm nicht.
Inzwischen hatte der Schatten ihn fast erreicht. Um ihn wurde es dunkler und dunkler. “ Wo ist der Mond? Ich sehe ihn nicht „, war das wenige, was er noch dachte. Noch einmal zerrte er an dem grauen Tuch. Diesmal löste es sich. Langsam glitt es zu Boden. “ Ah „, schrie er. “ Endlich. Los, hilf mir. Töte den Schatten! “ Die fremde Gestalt aber antwortete nicht. Da bemerkte er, daß sie aus Stein war. Stumm blickte sie an ihm vorbei in die Ferne. Doch sie hielt etwas in ihren Armen. Der Schatten des Löwen hatte sich jetzt vollständig über ihn ausgebreitet, ließ ihn nicht mehr los. Langsam sog er ihn in sich auf. Der reiche Mann wußte, daß sein Leben vorbei war und daß er es mit keinem Geld der Welt mehr würde retten können. Bevor er aber für immer verschwand, gelang ihm noch ein letzter Blick auf das, was die versteinerte Gestalt in ihren Armen hielt.
Es war Sammy. Der Löwe mit der schwarzen Mähne.