Kindergeschichten

Karline

Karline war ein kleines Mädchen mit einem Pferdeschwanz, sie trug eine rote Hose und eine weiße Bluse. Sie war ein sehr artiges Kind, das immer pünktlich zur Schule ging, brav seine Hausaufgaben machte, und jedesmal, wenn jemand etwas zu ihr sagte, antwortete sie: „ Oh, gewiß, wenn ich darf.“

Karline wurde von den Eltern streng erzogen. Um sechs Uhr abends mußte sie ins Bett und um sechs Uhr früh wieder raus. Dazwischen wurde gelernt. Zum Spielen blieb dem Kind keine Zeit, denn es mußte nachmittags zum Geigenunterricht, zum Tennis , zur Gymnastik wegen der Gesundheit , zum Yoga-Unterricht wegen der Konzentration, zur musikalischen Früherziehung und zum Fremdsprachenkurs.

Einmal wurde Karline krank. Sie lag morgens im Bett und hatte Fieber. Ihre Mutter trat ins Zimmer :“ Kind, Du bist ja krank“, seufzte sie. „ Wenn Du jetzt im Bett bleibst, versäumst Du so viel in der Schule. Du solltest aufstehen und hingehen. Trink nur ordentlich, dann schaffst Du das schon.“ Oh, gewiß, wenn ich darf“, antwortete Karline, erhob sich, zog sich zittrig ihre rote Hose und ihre weiße Bluse an und machte sich mit wackeligen Beinen auf den Weg.

Jeden Tag, wenn Karline zur Schule ging, mußte sie an Rumpeloma Käthchens baufälligem Häuschen am Rande der Stadt vorbei. Da sie aber immer pünktlich in der Schule sein wollte, guckte sie nicht nach rechts, nicht nach links, sondern immer starr nach unten. Auf diese Weise hatte sie das Käthchen während ihrer dreijährigen Schulzeit noch nicht einmal zu Gesicht bekommen.

Heute aber war es anders. Karline wurde immer schwächer beim Gehen, sie wurde immer langsamer und ausgerechnet in der Nähe von Rumpelomas Haus, verließen sie endgültig die Kräfte. Ihren mit Büchern vollgepackten Schulranzen nahm sie ab, setzte sich erschöpft drauf und fing an bitterlich zu weinen. „ Kind, was ist denn los, warum weinst Du?“,fragte eine warme, freundliche Stimme dicht neben ihr.

Das war Käthchen. Sie hatte vor ihrem Häuschen auf einem alten Schemel gesessen , vor sich auf dem Schoß eine riesige Schüssel, in der sie mit einem Holzlöffel Sahne schlug, denn Käthchen erwartete heute nacht punkt zwölf Uhr ihre Freunde, die tanzenden Erdbeeren, zum festlichen Schmaus und Tanzgelage.

Sie hatte schon oft Karline an ihrem Häuschen vorbeihasten sehen und den Kopf geschüttelt über das emsige Kind, das keine Zeit zum Spielen fand.

„ Möchtest Du mit mir hinein?“, fragte Käthchen. „ Oh gewiß, wenn ich darf“, antwortete das kleine Mädchen. Vorsichtig hob sie die Rumpeloma auf und erkundigte sich erstmal nach ihrem Namen.“Du bist ganz heiß, Karline“, stellte sie fest.“ Möchtest du etwas trinken?“ „ Oh, gewiß, wenn ich darf“, antwortete die gehorsame Kleine. Käthchen gab ihr eine schöne, kalte, selbsgemachte Limonade zu trinken. Anschließend rief sie mit ihrem Ei-fon, dass sie seinerzeit von Ronald, dem Gockel, geschenkt bekommen hatte, in der Schule an und entschuldigte Karline. „ Möchtest Du Deine Eltern anrufen?“,fragte Käthchen. „ Oh, gewiß, wenn ich darf“, antwortete das brave Mädchen. „ Hast Du Hunger? Möchtest Du etwas essen?“, fragte Käthchen. „Oh, gewiß, wenn ich darf“, antwortete das arme Ding. Die Rumpeloma betrachtete Karline lange und nachdenklich.Schließlich meinte sie: „ Wir sollten Deine Eltern nicht anrufen. Sie denken ja, Du bist in der Schule.Da haben wir ein bißchen Zeit . Wir machen jetzt einen Spaziergang.“ „Oh, gewiß, wenn ich darf.“

Käthchen befühlte Karlines Stirn.“ Das Fieber ist gesunken. Die kalte Limonade und die Ruhe haben Dir gutgetan“, stellte sie fest. Dann nahm sie Karline an die Hand, in die andere nahm sie die riesige Schlagsahneschüssel und so machten sie sich auf den Weg.

Sie verließen die Stadt und kamen als erstes an dem Feld mit den tanzenden Erdbeeren vorbei. Die ganze Erdbeertruppe war bestens gelaunt, sie tanzten wild durcheinander, lachten und schnatterten. „Oma Käthchen“, riefen sie freudig überrascht. „Was machst Du denn hier?“ „ Kommt alle mit“, lachte Käthchen. „ Unser Fest findet heute früher statt , an einem anderen Ort.“ „ Doch nicht etwa unterm Geschichtenbaum“, rief Jakob, der Kluge, der engste Vertraute von Käthchen. „ Doch, genau dort“, entgegnete die Rumpeloma vergnügt. Karline weinte schon wieder. „ Erdbeeren können nicht sprechen und schon gar nicht tanzen“, jammerte sie. „ Das hab ich in der Schule gelernt.“ Der hagere Jochen war schwer beleidigt. „ Natürlich können wir tanzen und sprechen“, widersprach er verdrossen. „ Aber wenn man nur nach unten guckt, kriegt man natürlich davon nichts mit.“

„ Laßt uns jetzt losgehen“, mahnte Käthchen. „ Komm, Karline.“

„Oh, gewiß, wenn ich darf.“

Sie entfernten sich alle vom Erdbeerfeld, das Käthchen voran mit der braven Karline an der Hand und hinterdrein die ganze tanzende Erdbeermannschaft. Bald hatten sie den angrenzenden Wald erreicht und marschierten hinein.

Karline war noch nie in einem Wald gewesen, sie hatte außer ihrem Kanarienvogel noch keine Vögel singen hören.Nun sah sie die vielen Bäume , das sonnengrüne, freundliche Laubdach, das sich wie eine Kuppel über ihnen wölbte, die goldschimmernden Lichtungen, die wie kleine, gemütliche Waldwohnungen aussahen.

Schließlich hatten sie ihr Ziel erreicht. Sie waren an der tiefsten Stelle des Waldes angelangt, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen.

„Na, Karline, was sagst Du nun?“, fragte Oma Käthchen. Karline wußte nichts zu sagen, sie stand nur staunend da. Vor ihr stand eine riesige Eiche, die fast bis zum Himmel reichte. An jedem ihrer Äste hingen aber keine Blätter, sondern unzählige buntbedruckte und buntbemalte kleine Bücher. In jedem dieser Bücher stand eine Geschichte.

„ Als ich so klein war wie Du, Karline, habe ich alle Geschichten, die ich besonders gern gelesen habe, gesammelt. Ich habe sie hierher getragen und an dieser Stelle vergraben. Erst ist eine kleine Eiche daraus entstanden mit nur einem Buch und nur einer Geschichte, dann wurde die kleine Eiche größer, es wuchsen immer mehr Bücher an ihren Ästen und sie wächst weiter und weiter“, sagte Oma Käthchen leise und glücklich.

Sie hob Karline hoch und setzte sie mitten hinein in den Geschichtenbaum. „Lies, Du hast Zeit“, murmelte sie liebevoll.

Karline begann zu lesen, sie kletterte immer höher in die Eiche hinauf und las und las. Der Wind rauschte sacht durch die Bäume, die Tiere raschelten durch das Gehölz, Rumpeloma Käthchen und ihre Erdbeerfreunde unterhielten sich flüsternd.

Endlich kletterte Karline vom Geschichtenbaum herunter, heraus aus einer anderen Welt, in der sie für lange Zeit versunken war. Ihre Augen strahlten, das Fieber war vollständig weg, sie war wieder gesund.

Oma Käthchen und ihre Erdbeerfreunde nahmen Karline in ihre Mitte, sie tanzten mit ihr, wirbelten sie durch die Luft und verspeisten anschließend mit ihr Unmassen von Schlagsahne. „ Ohne Erdbeeren, versteht sich“, nuschelte die dicke Rosalinde und kaute mit vollem Erdbeermund.

„Wir müssen uns auf den Heimweg machen“, mahnte Käthchen schließlich. „ Ich bringe Dich jetzt zurück zu Deiner Mutter und zu Deinem Vater.“ Da sagte Karline laut und vernehmlich:

„ Nein.“

Ihr Lieben, hier noch mal die Aufzählung meiner Geschichten über die tanzenden Erdbeeren und ihrer Freunde:

1. Kleine Sonne smilie

2. Jakob, die Erdbeere ( Wie alles begann )

3. Ronald, der Gockel

4. Mathilde

5. Der Redefluss

6. Als Weihnachten einmal ausfiel

7. Peterle

8. Karline

Eure Stoffelerzähltante

No Comments

Leave a reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *