Im Wohnzimmer der Familie Müller stand ein altes Sofa. Es war braun mit dunklen fettigen Flecken drauf, an vielen Stellen war es abgeschabt und hier und da quoll aus kleinen Löchern die Holzwolle heraus. Kurz gesagt, es sah richtig hässlich aus. Aber es hatte eine große, bequeme Lehne, an die man sich so schön ankuscheln konnte. Überhaupt saß man sehr gemütlich auf dem alten Teil, man versank förmlich in den weichen, eingesessenen Kuhlen.Die Kinder der Familie Müller liebten das Sofa und nannten es Gertrud.
Auch die Tiere liebten Gertrud. Eines Nachts waren sechs kleine Mäuse, Vater Maus, Mutter Maus, ihre Kinder, Flips, Flaps, Flops und Flups vor der großen, grauen und sehr hungrigen müllerschen Katze Krimhild geflohen, auf die alte Gertrud gehüpft und piepsend in ihren kleinen Löchern verschwunden. Gerettet! Fortan hatte die Mäusefamilie ein komfortables Leben. So gemütlich war es in den Tiefen des alten Sofas, das voll von wärmender Holzwolle war. Wenn Müllers Kinder sich auf Gertrud rumlümmelten und leckere Sachen knabberten und naschten, fiel genug davon durch die Löcher zu den hungrigen Mäusen hinunter.So hatten alle ein gutes Leben: Die Müllers, die Mäuse der Müllers und Gertrud, die nie einsam war, denn auf ihr und in ihr regte und bewegte sich ständig das Leben.
Nur die Katze Krimhild hockte manchmal verdrießlich vor dem Sofa und fauchte.
Eines Morgens aber, die Müllers saßen gerade auf Gertrud und frühstückten, die Mäuse ließen es sich in Gertrud ebenfalls schmecken, wobei Flips, Flaps, Flops und Flups übermütig rumtobten, eines Morgens also löste sich dabei unglücklicherweise eine von Gertruds ausgeleierten Sprungfedern und sprang dem dicken Herrn Müller direkt ins Gesäß. Der schrie auf und hüpfte ein paar mal auf Gertrud hoch und runter, sehr zum Vergnügen seiner Kinder.„Schluss, Aus“, rief er erbost. „ Mir reichts mit dem häßlichen, alten Sofa. Morgen kommt es auf den Sperrmüll und wird dann zerhackt. Ein neues Sofa muß her. Neu, modern, ohne Sprungfedern.“ „ Nein, Papa, nein, das darfst Du nicht. Wir haben die Gertrud schon so lange. Wir wollen kein neues Sofa, wir haben sie doch so gern“, flehten und bettelten die Kinder. Doch es half alles nichts. Am nächsten Tag sollte das Sofa aus dem Haus geschafft werden, so hatte es der Vater beschlossen. Die Mutter nickte dazu.
Und Gertrud?Was hatte sie nicht alles erlebt! Wie oft waren die Kinder übermütig auf ihr rumgesprungen, wie oft hatten sie ihre vom Spielen schmutzigen Hände an ihr abgewischt, wie oft hatten sie ihre Tränen an ihrer Sofalehne getrocknet, wenn sie traurig waren.
Und wie oft hatte sich der Herr Müller mit seinem fülligen Hinterteil auf die Gertrud draufplumpsen lassen, dass ihre Sprungfedern aufstöhnten, wenn er sich wegen seiner Arbeit geärgert hatte.
Wie oft wohl hatte Mutter Müller auf der alten Gertrud gesessen, gehäkelt und gestrickt?Alles das hatte Gertrud über sich ergehen lassen, alles hatte sie ertragen, gutmütig brummend und knarrend.
Jetzt stand sie allein im Wohnzimmer, zerschlissen und verblichen. Die kurzen Sofabeine ächzten ein wenig, die Lehne zitterte kaum merklich.
Aber so allein war sie gar nicht, die Gertrud. Sie hatte Freunde, die ihr helfen wollten. Das waren: Die drei Müllerkinder und die sechs Müllermäuse.Die Kinder steckten die Köpfe zusammen. „ Heute Nacht, wenn Papa und Mama schlafen, schaffen wir Gertrud aus dem Haus. Wir werden sie in Sicherheit bringen. Zum Glück schnarcht Papa so laut, da hören er und Mama uns nicht“, flüsterten sie.„ Wir werden den Kindern helfen“, wisperten die Mäuse, die ein schlechtes Gewissen hatten, denn durch sie war das Dilemma ja überhaupt erst entstanden. Krimhild beschloß auch zu helfen und ihren Appetit auf zartes Mäusefleisch vorübergehend zu verdrängen. Wie gern hatte sie an Gertrud ihre Krallen gewetzt und geschubbert!
Endlich wurde es Abend. Man aß zum letzten Mal auf dem Sofa Abendbrot, dabei wurde nochmal ordentlich gekrümelt. Danach begaben sich Vater und Mutter ins Bett, die Kinder ebenfalls, allerdings nicht für lange. Bei den ersten väterlichen Schnarchgeräuschen sprangen die drei aus den Betten, liefen ins Wohnzimmer hin zu Gertrud und zerrten an ihr herum, um sie irgendwie von der Stelle zu bewegen. Die sechs Mäuse hatten den Tag damit zugebracht, sich unten durch das alte Sofa durchzuknabbern. Während oben die Kinder schoben und zogen, stemmten sich die sechs Tierchen von unten dagegen und trippelten mit ihren kleinen Beinen mit. Lustig sah das aus, wie unterm Sofa die Mäusebeinchen mitliefen, es sah aus, als liefe die Gertrud von selbst.Krimhild hatte sich eigenständig ihre Katzenleine umgebunden, das eine Ende um den Hals, das andere Ende um ein Sofabein. Sie zog ebenfalls, stöhnte, schnaufte und erwürgte sich fast dabei. Aber ihr passierte nichts. Krimhild war eine entscheidende Hilfe.
Gertrud knarrte und ächzte wie verrückt, rumpelte und polterte.Endlich war es geschafft. Das Sofa stand auf der Straße. Es sah noch ein bißchen ramponierter aus als vorher, aber egal, Hauptsache, es war heil. „Wir haben noch die ganze Nacht vor uns, um sie an einen Ort zu bringen, wo sie Papa und Mama nicht finden“, flüsterten die Kinder und schoben das Sofa voran. Die Mäuse fiepten zustimmend und liefen eifrig untendrunter mit. Krimhild zog ebenfalls fleißig weiter, wobei sie heldenhaft ihren Hunger unterdrückte.
Als die Nacht am tiefsten war, erreichte die kleine, sonderbare Truppe das große Meer. Sie brachten Gertrud zu einer Stelle am Strand, die besonders sicher und geschützt war. Dann streichelten alle, Kinder, Mäuse und Katze, das treue alte Sofa zum Abschied. Rasch liefen sie nach Hause. Die Kinder mußten ja in ihren Betten liegen, als wäre nichts geschehen, wenn Vater und Mutter aufstanden, um sie zu wecken. Na, die würden sich wundern, dass Gertrud auf einmal weg war!Die Mäusefamilie mußte sich ein neues Zuhause suchen. Wer bot ihnen großzügig sein Katzenkörbchen an zum mietfreien Wohnen? Richtig. Krimhild. Und ganz ohne Nebengedanken……
Gertrud aber stand auf dem Strand, nah am großen Meer. Manchmal wackelte ihre Lehne, wenn der Wind heftig darüberfuhr. Hin und wieder schwappte etwas Meerwasser an ihre kurzen Holzbeine, spritzte über das abgeschabte Polster und erfrischte sie.Noch war der neue Tag nicht angebrochen. Es war dunkel und grau. Nur schemenhaft konnte man das Meer erkennen, den Strand und Gertrud, die so geduldig dastand. Fast schien es, als würde alles ineinander verschwimmen.
So steht das alte Sofa da, tausend und aber tausend Jahre. Manchmal kommt eine weiße Möwe angeflogen. Für eine Weile setzt sie sich auf das weiche Polster. Sie ist so leicht, dass Gertrud sie kaum spürt. Vorsichtig hüpft die weiße Möwe auf die alte Sofalehne. Ganz ruhig sitzt sie da.
Und schaut aufs Meer.