Diese Geschichte ist nur für mich und für noch jemanden.
Wußtet Ihr, dass jedes Lebewesen mit einer Seele einen Schutzengel hat? Also nicht nur die Menschen, sondern auch die Tiere. Besonders in der Weihnachtszeit brauchen die Tiere die Hilfe ihrer Schutzengel. Sie möchten leben, aber sie dürfen nicht.
“ Ich will nicht geschlachtet werden“, schnatterte voller Angst die große, weiße Gans Isolde, die mit ihren Artgenossen eng zusammengepfercht im Gehege hockte. “ Ich will nicht sterben“, jammerte ebenfalls die Ente Kordula, die, wild und schön, eines Tages von den Menschen eingefangen worden war. “ Ich will nicht sterben“, klagte auch der Truthahn Eberhard. Unglücklich scharrte er in seinem trostlosen Tiergefängnis mit den Füßen. “ Ich will nicht sterben, ich will nicht sterben“, so tönte es weinend durch die dunkle vorweihnachtliche Welt. Die Menschen achteten nicht auf das Wehklagen der Tiere, das mal leise, mal laut, mal flüsternd, mal schreiend zu vernehmen war. Genußvoll wetzten sie bereits Messer und Gabel. Erreichte doch einmal ein wimmernder Ton ihr Ohr, so lachten sie darüber.
Die Schutzengel der Tiere aber konnten die verzweifelten Klagen nicht überhören, die in diesem Jahr besonders laut waren. Besorgt wandten sie sich an die Schutzengel der Menschen:“ Die Tiere dürfen in diesem Jahr zu Weihnachten nicht geschlachtet werden. Sie haben so große Angst, denn sie wissen, was ihnen bevorsteht. Es ist Jahr für Jahr dasselbe.“ “ Tut uns leid“, erwiderten die Schutzengel der Menschen. “ Die Menschen wollen zu Weihnachten Braten essen, sonst kriegen sie schlechte Laune.“ “ Ein paar Möhren tuns auch“, rief das kleinste Tierengelchen frech. Es war das Schutzengelchen der Kaninchen. Ganz unordentlich sah es aus mit lustigen Äuglein unter den zerzausten Haaren.
Die himmlischen Heerscharen konnten sich nicht einigen. Schließlich flogen sie allesamt über die hohen Berge, über das weite Meer, hinein in den tiefen Wald bis zu der Stelle, die am dunkelsten war. Dort stand seit urdenklichen Zeiten Josua, der Tannenzweigmensch, eine riesige, mächtige Tanne mit einem knorrigen, verwitterten Stamm. Inmitten des Stammes aber schaute ein Gesicht heraus mit Augen, Nase und Mund. Dieses Menschengesicht blickte gütig und weise, aber sehr ernst, denn was die Engel ihm wild durcheinanderplappernd erzählten, betrübte sein Tannenzweigherz. Dann verstummten die Engel. Erwartungsvoll sahen sie Josua an. Der schloß für einen Moment die runzligen Augen, die sich aus der grauen Baumrinde hervorwölbten. Schließlich öffnete er sie wieder. Ruhig blickte er die Schutzengel an, die der Menschen und die der Tiere. Langsam begann er mit seinem breiten Rindenmund mit rauher, knarrender Stimme zu sprechen. Als er geendet hatte, herrschte eine tiefe Stille.
Nach einiger Zeit erhoben sich alle Engel, um den Heimweg anzutreten. Gemeinsam rauschten sie durch die Nacht. Es war die Weihnachtsnacht. Alle Engel verteilten sich. Jeder flog zu einem anderen Tiergefängnis. Mit ihren langen, zerzausten Haaren berührten sie die vergitterten Türen. Die sprangen sofort auf. Gackernd, schnatternd, blökend, grunzend, miauend, bellend, wiehernd und jubelnd stömten die Tiere heraus. In einem fröhlichen Durcheinander folgten sie den Schutzengeln, die vor ihnen herflogen, um ihnen den Weg zu zeigen. Endlich erreichten sie wieder die dunkelste Stelle des Waldes, in deren Mitte Josua stand. Der aber war von strahlendem Glanz erfüllt, denn an seinen Zweigen leuchteten goldene Sterne, die ihm Licht gaben. Das stille Menschengesicht im Tannenbaum lächelte sanft. Die Augen waren geschlossen.
Die geretteten Tiere tanzten um den reich geschmückten Baum herum, freuten sich ihres Lebens, beschenkten sich gegenseitig, sangen gackernd, schnatternd, blökénd, grunzend, miauend, bellend, wiehernd jubelnde Lieder. Auf der obersten Spitze vom Baum Josua saß das kleinste und frechste Schutzengelchen. Übermütig wippte es hin und her. Es war ein großes Fest.
Es war das Weihnachtsfest der Tiere.