Nachdem sich Karline, die vom Geschichtenbaum heruntergeklettert war, geweigert hatte, zu Vater und Mutter zurückzukehren, hatten alle wild und aufgeregt auf sie eingeredet. “ Deine Eltern werden voller Sorge sein“, meinte Jakob, der Weise. „Sie werden Dir mindestens eine Woche Stubenarrest geben und das mit Recht“, knurrte der hagere Jochen schlechtgelaunt wie immer. “ Sämtliche Süßigkeiten werden sie Dir verbieten, Fernsehen darfst Du auch nicht mehr“, schrie Roland, der Gockel, dramatisch. “ Das darf ich sowieso nicht“, murmelte Karline und blickte finster vor sich hin. “ Möglicherweise verbieten sie Dir sogar die Schule“, kicherte das unverbesserliche Käthchen. “ Nein, im Ernst, mein Kind, ich bringe Dich jetzt nach Hause. Ich rede mit Deinen Eltern, dass sie Dich in Zukunft etwas mehr in Ruhe lassen.“ “ Auf Dich werden sie bestimmt hören“, rief das Walderdbeerchen Fritzchen frech. Seine Freunde Manuel, die Brombeere, Lieselotte, die Himbeere, die heimlich sowohl in Fritzchen als auch in Manuel verliebt war, und Bürstchen, die Stachelbeere, lachten lauthals. “ Schluß“, mahnte Jochen, der Besonnene.
Alle blickten die Rumpeloma an, wie sie so dastand mit ihren falsch bestrumpften Beinen, der dicken Brille auf der Nase, dem dünnen Haarknötchen auf dem Kopf. Ach, wie hatten sie sie alle so gern! Aber würden die strengen, ehrgeizigen Eltern von Karline auf die kleine, lustige, alte Rumpeloma hören? “ Niemals“, seufzte die dicke, saftige, tiefrote Erdbeere Rosalinde. “ Das wird schiefgehen“, stimmte ihr der hagere Jochen verdrossen zu, leicht grün wie immer, weil er nicht richtig reifen wollte.
“ Das wolln wir doch mal sehen“, rief Oma Käthchen fröhlich. Diesen Spruch hatte sie seinerzeit von Doktor Ziegenbart übernommen. Aber das ist eine andere Geschichte. “ Kommt“, rief Käthchen wieder. „Wir gehen.“ Sprachs, schnappte sich die widerstrebende Karline, nahm sie an die eine Hand, in der anderen Hand hielt sie die inzwischen leergefutterte, riesige Schlagsahneschüssel.
“ Halt“, ertönte da ein feines, leises Stimmchen. “ Halt. Nehmt mich mit.“ Alle wandten sich erstaunt um. Da wurde doch von einem leichten Windhauch angetrieben ein Heidelbeerchen zu ihnen hingeweht. “ Bestimmt hast Du den alten Pilzkopf Jeremias geärgert, der hat Dir eine geklebt und jetzt kommst Du zu uns geflogen“, lachte das vorlaute Fritzchen. „Ja, genau so wars. Ich wollte zu meiner besten Freundin Lieselotte“, zirpte das blaue Heidelbeerchen. Niedlich sah es aus, so klein und kugelig. Aber blau? War nicht auch ein bisschen grün dazwischen? Erinnert uns das nicht an jemanden? An jemanden, der ständig und immer schlecht gelaunt war? Richtig! Die unreife Erdbeere Jochen! Er betrachtete das niedliche grünblaue Beerchen eine Zeitlang. “ Wie heißt Du denn?“, fragte er mißmutig. “ Mi „, antwortete das ebenfalls etwas unreife Heidelbeerchen. “ Na, da haben sich ja zwei gefunden“, dröhnte Gockel Ronald laut. “ Schluß“, mahnte Jakob, der Gütige.
“ Laßt uns gehen“, forderte Oma Käthchen die ganze Truppe auf. “ Mi kommt mit uns mit. Beim Erdbeerfeld verabschieden wir uns. Ich bringe Karline dann allein nach Hause und rede mit ihren Eltern ein ernstes Wörtchen.“ Käthchen lachte ein wenig verlegen. Die anderen kicherten ein bisschen mit. Außer Jochen.
Doch es kam alles anders. In dem Moment, als sich die ganze Mannschaft auf den Heimweg machen wollte und sich langsam vom Geschichtenbaum entfernte, hörte man in der Ferne unzählige schwere Schritte, die langsam näher kamen. Lärmende Rufe ertönten, am Rande des Waldes erschienen viele Männer in schwarzen Anzügen. Jeder hielt eine Axt in der Hand, die er drohend hin und her schwang. Heimlich waren die Männer unseren Freunden gefolgt. Die schöne, große Eiche mit den hübschen Büchern war ihnen sofort aufgefallen. Jetzt wollten sie sie mit ihrer Axt fällen. Denn: “ Ein Baum mit Büchern dran entbehrt jeglicher wissenschaftlicher Grundlage und wird vernichtet.“ Das hatte der mächtigste unter den Männern verkündet und zum Gesetz erklärt. Die anderen nickten.
Immer näher kamen sie. Der Geschichtenbaum war in höchster Gefahr. Unsere Freunde waren natürlich schnurstracks umgekehrt. Aufgeregt rannten sie zurück zur Eiche, die so stolz, so aufrecht dastand. “ Wir müssen sie beschützen“, keuchten sie. Verzweifelt umklammerten sie den Baum, sie wollten ihn doch retten.
Aber wie?
Es blieb ihnen kaum Zeit. Jeden Moment konnten die schwarzen Männer da sein. Schon hörte man das schrecklich surrende Geräusch der hin und her schwingenden Äxte.
Rumpeloma Käthchen blickte zum Himmel hinauf. “ Puste“, schrie sie in höchster Not. “ Puste.“ Ihre Freunde wußten, wen sie meinte. Es gab nur einen, der jetzt noch helfen konnte.
Der Engel mit den zerzausten Haaren.
Nun schrien sie alle im Chor: „Puste, puste.“
Da wurde es still. Totenstill. Eine Sekunde. Zwei Sekunden. Dann aber erhob sich ein leichter Windhauch. Die Bücher am Geschichtenbaum fingen leise an zu rascheln. Der Windhauch wurde etwas stärker. Bald wurde aus dem Hauch ein kräftiger Wind, der sich rasch zu einem heftigen Sturm steigerte. Zum Schluß war es ein ohrenbetäubender Orkan. Die Eiche ächzte, knarrte und stöhnte. Sie bog sich nach allen Seiten. Schließlich wurde sie mitsamt ihrer Wurzeln aus der Erde gerissen, hinaufgeschleudert in die Luft. Mit all unseren Freunden, die sich an ihr festkrallten. Mit all den bunten Büchern an ihren Ästen, die wild hin und her flatterten. Die bösen Männer aber, die in rasendem Tempo zum Geschichtenbaum gerannt waren, konnten sich nicht mehr rechtzeitig abbremsen. Einer nach dem anderen purzelte ins riesengroße Loch, das die entwurzelte Eiche hinterlassen hatte. Niemals wieder wurde einer von ihnen je gesehen.
Inzwischen hatte sich der Orkan beruhigt. Er war nun ein sanfter Wind, der den Baum, an dessen starkem Stamm die Freunde hingen, am weiten Himmel sacht vor sich hertrieb. Der Baum flog dahin. Immer weiter und weiter. Zum Glück war keiner unserer Freunde verloren gegangen. Die zarte Lieselotte wurde von Fritzchen und Manuel festgehalten. Auf das winzigkleine Heidelbeerchen Mi gab der hagere Jochen acht. Mehr als einmal knurrte er:“ Mi, zum Donnerwetter, halt Dich an mir fest.“ So geschah auch ihr kein Leid.
Oma Käthchen, die nicht mehr die Jüngste war, wurde von Jakob, ihrem engsten Vertrauten, gehalten. “ Danke, tausendmal Danke“, rief sie dem Engel mit den zerzausten Haaren zu, der sie alle immer noch vorsichtig voranpustete. “ Bitte blase uns doch zu unseren Freunden ins Dorf Immergrün.“
Das tat der Engel mit den zerzausten Haaren auch. Es dauerte sieben Tage. Dann legte sich der Wind. Sanft landete der Geschichtenbaum mitten im Dorf Immergrün. Die Immergrüner Freunde eilten aufgeregt herbei. Der Hamster Mops, die Hasen Fridolin und Franka, die Katzen Paula und Karl, das Schaf Brigitte mit Sohn Hänschen, die kleine Sonne Smilie und die stillen Tannenzweigmenschen. Sie halfen unseren erschöpften Freunden vom Baum. Dann wurde erstmal ordentlich gegessen und getrunken.
Und erzählt!
Schließlich wollten sie alle nur noch schlafen. Bevor sie sich aber niederlegten, gingen sie zur Eiche, die auf der Erde lag, zum Glück unversehrt. Auch ihre Büchlein waren nicht zu Schaden gekommen. Gemeinsam richteten die Freunde mit all ihrer Kraft den Geschichtenbaum auf, gruben ein großes, weiches Loch, in dem seine Wurzeln Halt finden konnten. Liebevoll betrachteten sie ihn. “ In ein paar Tagen bringe ich Dich zurück zu Deinen Eltern“,meinte Käthchen zur Karline. “ Ronald hat sie von unterwegs aus mit seinem Ei-fon angerufen.“ Karline nickte. Sie lachte. Sie war so glücklich. Mit ihren Freunden. Mit dem Baum. Mit seinen Geschichten.
Alle gingen zu Bett. Bis auf die Tannenzweigmenschen. Sie betrachteten den Geschichtenbaum mit ihren stillen, freundlichen Menschengesichtern. Ganz nah standen sie bei ihm, der so hübsch aussah mit den kleinen, bunten Büchern an seinen Ästen. Ein leichter Wind kam auf. Die Seiten in den Büchlein raschelten kaum hörbar.
Ruhig steht er da, der Geschichtenbaum.
Die Tannenzweigmenschen beschützen ihn.
Er wartet auf Euch.