Wie tief kann ich in mich gehen, bis ich den Stern treffe, auf dem ich wohnen werde.
Mit unzähligen anderen winzig kleinen Spermien schwamm der kleine Sperm durch das weite Meer auf ein riesiges Ei zu, das groß und erwartungsvoll mitten in einer geheimnisvollen schönen Landschaft stand.
„Dort will ich als erster hinein“, piepste der kleine Sperm und schwamm und paddelte wie verrückt um vorwärts zu kommen. Um ihn herum schnaufte und keuchte es. Es plätscherte und platschte. Das waren die anderen Winzlinge, die mit Eifer bei der Sache waren, galt es doch als erster in das große Ei einzudringen.
Während also die unzählig vielen Spermien mit hochroten Köpfchen durch das tosende Meer eilten, stand etwas abseits am Rande des Meeres an einen schroffen Felsen gelehnt ein einzelner Sperm. Das war Klaus Dieter. Es war ungewöhnlich, daß er so alleine dastand, denn in der Regel hatten die Spermien in Massen aufzutreten. Anfangs war der einzelne Sperm auch einer unter vielen gewesen, war wie alle anderen jahrzehntelang um die Wette geschwommen um das Ei zu erreichen. Doch nie hatte er Glück gehabt. Mit den Jahren hatte er inzwischen ein so hohes Alter erreicht, daß es fast unmöglich schien, daß sein Traum in Erfüllung gehen könnte doch noch in das Ei zu gelangen.
Er sah wie der kleine Sperm an Tempo aufholte, bald unter den vordersten Kameraden schwamm und immer näher an sein Ziel kam. Jubelnd riß der Kleine seine Ärmchen hoch. „Bald bin ich drin“, zirpte er. Tatsächlich! Man konnte schon die runde goldene Tür in der glitzernden Eizelle erblicken.
„Ja, gleich ist er drin“, dachte Klaus Dieter seufzend. Mit einer müden Bewegung wischte er sich eine Träne vom Gesicht. „Dabei ist der Kleine noch so jung und kann noch tausendmal sein Glück versuchen“, grübelte er weiter. Wie oft hatte er selbst es schon probiert. Wie oft hatte er voller Vorfreude und Sehnsucht vor der goldenen Tür gestanden. Immer war ihm im letzten Moment ein anderer zuvor gekommen.
Nein! Diesmal sollte es anders werden! Klaus Dieter nahm einen großen Stein, schleuderte ihn mit aller Kraft, die er noch hatte, ins Wasser in Richtung des kleinen Sperms. Der wurde am Köpfchen getroffen und bekam eine Beule. „Warum hast du das getan?“, jammerte der Kleine anklagend und rieb sich die schmerzende Stelle. „Weil ich endlich mal dran bin. Ich kenne das Leben noch nicht. Aber du hast noch so oft die Gelegenheit dazu“, rief der betagte Sperm, schmiß sich mit voller Wucht ins Wasser und paddelte besinnungslos drauf los ohne sich zu schonen. Es war nur das Rauschen des Meeres zu hören, das keuchende Atmen vom rasch erschöpften alten Sperm und das leise Weinen von dem kleinen Sperm. Doch plötzlich ging das Weinen von dem kleinen frechen Kerlchen in ein Lachen über. „Du schwimmst ja gar nicht mehr, du Opa“, krähte er vergnügt. „Auf einmal steckst du fest.“ Er kicherte. Übermütig drehte er sich um sich selbst. Lustige Blasen blubberten hoch.
Tatsächlich hatte Klaus Dieter mitten im brausenden Wasser einen Krampf in der linken Spermienflosse bekommen. Er konnte sich nicht mehr bewegen. Das Meer drohte über ihm zusammenzuschlagen. Lange würde es nicht dauern, bis es ihn mit sich in die Tiefe riß. „Es ist aus“, dachte Klaus Dieter noch, während er verzweifelt nach Luft rang. Bis in alle Ewigkeit würde er es nicht schaffen in das Ei einzudringen. Niemals würde er das Leben kennenlernen. Das Leben, nach dem er sich doch so sehnte. Manchmal allerdings war es ihn in seinem kargen Spermienleben so vorgekommen, als hätte er ganz aus weiter Ferne schon einmal das Leben gesehen, als hätte er vor Millionen von Jahren womöglich selbst schon einmal gelebt. Warum nämlich hatte ihn immer und überall diese starke Sehnsucht erfüllt nach etwas, das wie die Sonne aussah, nach etwas, das ihn wärmte. Warum nur gab es in ihm diese Ahnung von etwas Unbeschreiblichem, das so schön war, daß es ihn schmerzte. Nun war es für ihn für immer verloren. Von weit her hörte er den kleinen Sperm glücklich lachen. „Gleich bin ich als erster drin trotz der Beule“, jauchzte er. Er schlüpfte durch die goldene Tür, die sachte hinter ihm zu schwang.
„Es ist gut, wie es gekommen ist“, dachte Klaus Dieter, während er langsam auf den Grund des Meeres sank, denn je tiefer er sank, desto mehr erinnerte er sich. Auf einmal wurde er sehr müde. „Der kleine Sperm ist jung und kräftig. Er wird das Leben lieben. Die Welt wird er aushalten“, dachte er noch. Ein wenig fröstelnd schlief er ein und träumte, er wäre ein Mensch.