Die kleine Kapelle
Kindergeschichten— geschrieben von stoffel @ 00:48
Zwischen den hohen Bergen stand die kleine Kapelle. Hübsch sah sie aus, ganz weiß mit kleinen goldenen Fenstern, einem recht breiten Kirchentor, das aus zwei Portalen aus Eichenholz bestand und einem roten Zwiebeltürmchen, welches frech und vorwitzig in der Sonne leuchtete. Ganz winzig wirkte die kleine Kapelle, denn hoch und ernst ragten um sie herum die Berge mit ihren schneebedeckten Gipfeln empor bis fast in den Himmel hinein. Ein wenig allein fühlte sich die kleine Kapelle. Außer ihr war nichts zu sehen, nichts, außer den schweigenden Bergen, die die ganze Erde einzunehmen schienen. Ab und an schnupperte ein einsamer Schneeleopard an den Gemäuern der Kirche und trottete wieder von dannen. Manchmal ließ sich ein riesiger Bergadler auf dem Zwiebeltürmchen nieder, um sich auszuruhen. Dann bebte die kleine Kapelle und erzitterte unter dem schweren Gewicht.
Tapfer hielt die kleine Kapelle Jahr für Jahr dem harten Winter und dem heißen Sommer stand. Einmal war der Winter besonders kalt und klirrend. Erstarrt standen die Berge mit ihren schneebedeckten Gipfeln da. Der Schneeleopard suchte an den kalten Wänden der Kapelle Schutz und Wärme. “ Nanu „, wunderte sich die kleine Kapelle. “ Er ist gar nicht mehr allein. Eine Schneeleopardin steht dicht neben ihm und drei süße Schneeleopardenbabys schmiegen sich an ihre Mama. “ So war es. Der Schnneeleopard hatte eine Familie gegründet. Jetzt war er kein einsamer Schneeleopard mehr. Jetzt war er ein glücklicher Schneeleopard.
Die kleine Kapelle hatte eine Idee. “ Ich könnte die Leopardenfamilie zu mir hereinlassen. Dann ist ihr nicht mehr kalt und ich bin nicht mehr so allein „, dachte sie und das kleine rote Zwiebeltürmchen wackelte vor Aufregung hin und her. Die hohen Berge aber beachteten es nicht. Still und stumm standen sie da, majestätisch und unnahbar.
Die kleine Kapelle strengte sich an wie noch nie in ihrem Leben. Tief atmete sie ein, sodaß ein heftiger Ruck durch ihre Mauern ging und siehe da, langsam und schwerfällig öffnete sich das Kirchentor. Es knarrte gewaltig.
Wie war die Schneeleopardenfamilie froh, der grausamen Kälte zu entkommen. Erleichtert liefen sie alle auf ihren weichen Pfoten mitten hinein in die Kapelle, kuschelten sich aneinander, spürten eine wohlige Wärme in sich aufsteigen und schliefen ein. „Bestimmt träumen sie vom Sommer, wo alles hell und warm ist „, wisperte die kleine Kapelle. Das schwere Tor zu öffnen, war ganz schön anstrengend gewesen. Und so schlief die kleine Kapelle auch ein bißchen. Das rote Zwiebeltürmchen senkte sich ein wenig nach unten. Es war unterdessen Nacht geworden. Wie mächtige schwarze Schatten ragten die hohen Berge in den Himmel. Nur der Schnee auf ihren Gipfeln leuchtete ein wenig im fahlen Mondenschein.
Wie still war es auf der Welt.
Plötzlich schreckte die kleine Kapelle hoch, hatte sie doch etwas gehört. Im Nu stand das rote Zwiebeltürmchen wieder kerzengerade. Das Kirchlein hatte durch den Schrecken so heftig geruckt, daß die Schneeleoparden ebenfalls erwachten. Erstaunt rieben sie sich die Augen, denn draußen vor dem Kirchentor war ein solch bitterliches Weinen zu vernehmen, daß es einen Stein hätte erweichen können. Das Weinen kam von einem Kinde, soviel war klar. Unsere Kapelle wurde durch das klägliche Wimmern ganz traurig und weinte mit. Das Zwiebeltürmchen zitterte bedenklich. Fast schien es, als würde es seinen Halt verlieren und hinunterplumpsen. Aber dann dehnte und streckte sich die kleine Kapelle, atmete wieder tief ein und zum zweiten Mal öffnete sich schwerfällig das hölzerne Tor.
In der geöffneten Kirchentür stand tatsächlich ein Kind, ein etwa fünjähriger Junge. Es war immer noch tiefe Nacht und so konnte man nicht viel von ihm erkennen. Man hörte nur das verzweifelte Schluchzen. Hinter dem Kind ragten die Berge empor. Groß und unerbittlich.
Die Schneeleoparden, die eigentlich die Menschen fürchteten, verloren bei diesem Kind rasch ihre Angst, liefen vertrauensvoll auf den Jungen zu und nahmen ihn in ihre Mitte. Erleichtert atmete die kleine Kapelle auf. Nach dieser Anstrengung konnte sie sich ein wenig ausruhen, waren ihre Schützlinge doch nun geborgen und in Sicherheit.
Den kleinen Jungen hatte seine Mutter einst Elias genannt. Sie wußte, daß sie sehr krank war und nur noch wenige Jahren zu leben hatte. Sie nahm ihren kleinen Sohn in den Arm und redete beruhigend auf ihn ein. “ Wenn ich Dich verlassen muß, mein Kind, wirst Du sehr traurig werden, in die Welt hinausgehen und mich suchen. Das weiß ich. Eines Tages wirst Du mich finden. Das verspreche ich Dir.“
Bald darauf starb sie. Ihr kleiner Sohn rannte verzweifelt in die Welt hinaus. Überall suchte er nach seiner Mutter. Er rief nach ihr, weinte, wühlte in der Erde, in der Hoffnung, sie dort in der warmen Tiefe zu finden, doch vergebens. Er war so verzweifelt, daß er seinen eigenen Namen vergaß. Eines Tages aber gelangte er zu den Bergen, in deren Mitte die kleine Kapelle stand, die ihm so freundlich, unter so großer Anstrengung die Tür geöffnet hatte. Was für ein Glück, daß die Schneeleopardenfamilie in dieser Nacht da war. Fürsorglich umringten ihn die Tiere und wärmten ihn mit ihrem dichten Fell. Sicher und geborgen fühlte sich nach langer Zeit der kleine Junge, der nun zu weinen aufhörte. Und endlich fiel ihm auch sein Name wieder ein. “ Ich heiße Elias „, flüsterte er. „Meine Mutter hat mich so genannt.“ Wie glücklich war er auf einmal!
Langsam schloß sich das schwere Tor der kleinen Kapelle. Draußen aber standen streng die hohen Berge und wachten über die Welt.