Natürlich sind Brezeln zum essen da. Sie schmecken so gut, wenn man in das frisch duftende gekringelte Gebäckstück hineinbeißt. So schön salzig schmecken sie. Sie stillen den Hunger. Sie geben Kraft. Beim dicken Bäcker Müller allerdings ging es nicht mit rechten Dingen zu. Irgendetwas krakelte mit piepsiger Stimme lauthals herum. “ Ich will nicht gegessen werden. Nein, ich will nicht. Leben will ich. Die große, weite Welt sehen, das will ich. “ Da purzelte doch auf einem der Backbleche, das mit den leckersten Brezeln angehäuft war, eine kleine, rundliche, noch sehr junge Brezel herum, drängte heraus, stieß die anderen großen, alten Salzbrezeln an und sorgte für heftige Unruhe. “ Paß doch auf, junges Ding „, raunzte eine ältliche, dunkelbraun gebackene Brezel schlecht gelaunt. “ Bei Deinem Geschubse rieselt mein ganzes Salz runter. Schau her, ganz nackt bin ich schon. Schmecken werde ich jetzt nicht mehr. Die Menschen werden das Gesicht verziehen, wenn sie mich essen. “ Daraufhin stimmte die schon recht zerfurchte Salzbrezel ein Klagegeheul an, sowas hat die Welt noch nicht gehört. “ Ruhe „, schnauzte es vom Nachbarblech herüber. Auf dem gut eingefetteten Blech lag der dicke, fette Pfannekuchen. Gemütlich bruzzelte er vor sich hin. Dick, braun, mit einem süßen Duft. Da konnten einem fast die Sinne vergehen. “ So, so, „, meinte er gutmütig. “ Du willst also hinaus in die Welt, kleine Brezel. Das wird kein Spaziergang, das kann ich Dir sagen. Ich hab da so meine Erfahrungen. Dann roll mal los. Hopp. Schnell runter vom Blech. Der dicke Bäcker Müller kommt gleich rein. Los Gunni, schmeiß mal ne Runde Zucker auf unsere Ausreißerin. Dann ist sie was besonderes. “ Das tat Gunni, die eigentlich Gunhild hieß. Sie war ein riesiger goldgelber Eierkuchen, der oder besser die auf einem Extrablech lag und es mit ihrer ungeheuren Teigmasse so ausfüllte, dass kein anderer Eierkuchen neben ihr Platz hatte. Gunni, so wurde sie zärtlich vom heimlich in sie verliebten dicken, fetten Pfannekuchen genannt, schmiss eine ordentliche Ladung Zucker auf die kleine übermütige Brezel. “ Hier „, brummte sie mit ihrer warmen, dunklen Eierkuchenstimme. “ Jetzt bist Du etwas besonderes. Ab heute bist Du eine Zuckerbrezel. Und jetzt hau ab. Ich höre den dicken Müller kommen. “
Der kam tatsächlich zur Tür herein, erblickte gerade noch die kleine Brezel, wie sie munter vom Blech herunterturnte und brüllte los. “ Hiergeblieben. Du versaust mir das Geschäft. Was denken denn die Leute, wenn meine Brezeln durch die Straßen spazieren. “ Zu spät. Schon war die kleine ungezogene Zuckerbrezel aus der Tür gehüpft. Durch die kleine Acht in ihrer Brezelmitte kam reichlich Luft hindurch. Die verhalf ihr zu viel Schwung. Das Brezelchen purzelte in rasendem Tempo die Straße entlang. Der dicke Herr Müller hinterher, puterrot im weiß bemehlten Bäckergesicht. Beim Laufen wackelte sein mächtiger Puddingbauch in der Gegend herum. Der Bäcker schnaufte wie verrückt. Endlich blieb er stehen. Gerade noch konnte er beobachten, wie etwas braunes rundes um die nächste Kurve verschwand. Ein winkendes Händchen war zu sehen, ein fröhliches Gelächter zu vernehmen. Weg war das freche Ding. Seufzend machte der Herr Bäckermeister Müller kehrt. Der Sieg ging eindeutig an die kleine Brezel, die er noch vor wenigen Stunden aus einem köstlichen Teig geformt hatte, denn backen, das konnte er. Laufen oder rennen, na ja.
Die ungezogene kleine Brezel war unterdessen aus der Stadt herausgerollt. Munter vor sich hinpfeifend kullerte sie einen Feldweg entlang. Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten, das Leben war schön. “ Das also ist die Welt „, dachte das Brezelchen glücklich. “ Wie gut, dass ich mich nicht habe essen lassen. Wie langweilig wäre das, in irgend so einem Bauch zu landen. Was hätte ich da erleben sollen, außer langsam verdaut zu werden. “ Plötzlich hörte sie dicht hinter sich ein vergnügtes Wiehern. „Au weia „, schrie die kleine Brezel. “ Was hat meine Muhme Brezeltasche mich gelehrt: Hüte Dich vor den Pferden. Sie sind unsere natürlichen Feinde. Sie haben uns zum Fressen gern, denn sie mögen Salz, Zucker und Mehl. Hilfe, Hilfe, das Pferd kommt immer näher. Es ist um mich geschehen. Mein Leben ist zu Ende. “ Dicke, zuckrige Tränen rollten ihr über die süßen Wangen und fielen ins grüne Gras. Das temperamentvolle Pferd, das die Brezel schon fast im Maul hatte, stoppte überrascht. Eine weinende Brezel? Sowas hatte es noch nicht gesehen. Verwirrt blieb es stehen, schnaubte ein wenig, stupste das vor Angst zitternde Brezelchen ein wenig an und begann die süßen Tränen vom grünen Gras aufzuschlecken. Saftig grünes Gras, dazu zuckrige Brezeltränen. Das schmeckt! Unsere Brezel war gerettet.
Etwas erschöpft von der überstandenen Gefahr rollte die kleine Brezel weiter. “ Jetzt weiss ich, was der dicke, fette Pfannekuchen gemeint hat „, dachte sie kleinlaut. Sie rollte nicht mehr so schnell dahin. Der Weg führte sie immer weiter weg von der heimatlichen Stadt, von den Wiesen und Feldern. Bald war ihr nichts mehr bekannt, nur fremdes Land um sie herum. Sie war recht müde. “ Ich brauche eine Bleibe, wo ich mich ausruhen kann „, dachte sie. “ Aber morgen stürze ich mich in neue Abenteuer. Ha. “ Langsam kehrte ihr Übermut zurück. In der Ferne erblickte sie ein kleines Dorf. Erwartungsvoll kullerte sie darauf zu. “ Vielleicht kriege ich dort etwas zu essen „, murmelte sie vor sich hin. Über diesen Witz musste sie selber lachen. Eine kichernde Brezel, die über Stock und Stein hüpft, habt Ihr so was schon mal gesehen?
Sie hatte inzwischen das Dorf erreicht. Seltsam leer schien es. Es bestand aus einfach gebauten, sehr ärmlichen Lehmhütten. Kein Mensch war zu sehen, auch kein Tier. Nichts war zu hören. Es herrschte eine geradezu beängstigende Stille. Doch! In diesem Moment vernahm die kleine Brezel einen hohen, dünnen Laut. Traurig und klagend klang das. Das Brezelchen rollte vorsichtig darauf zu. Vor einer der Lehmhütten erblickte sie eine kleine Gestalt. Sie hockte vor der Tür, in ein großes, graues Tuch gehüllt, aus dem ein hageres, verängstigtes Gesicht guckte. Es war ein Kind, ein kleines Mädchen. Es hatte keine Mutter und keinen Vater mehr. Und es war ganz allein auf der Welt. Mit traurigen Augen sah das Mädchen die kleine Brezel an. „Wie hungrig sie aussieht“, dachte diese. Sie wurde sehr nachdenklich. Nach einer Weile rollte sie etwas näher an das einsame Kind heran, sodaß es den süßen Duft atmen konnte. Langsam streckte es die Hand nach der Brezel aus, die es ruhig mit sich geschehen ließ. Langsam führte das Mädchen die Hand mit der Brezel darin zum Mund und biss hinein. Was für ein süßer, unendlicher Genuss. Für einen Moment schloss die Kleine beim Kauen die Augen. Es fühlte sich tief drinnen in ihrem Bauch auf einmal ganz warm an. In diesem Augenblick hörte sie eine helle Kinderstimme, die leise rief: “ Ich habe auch Hunger.“ Das Mädchen wandte sich um. Aus der Lehmhütte hinter ihr kam ein kleiner Junge herausgekrabbelt, ebenfalls in ein graues Tuch gehüllt. Der Duft der Brezel hatte ihn herausgelockt. Es war der kleine Bruder des Mädchens. Jetzt war es nicht mehr allein. Der kleine Bruder schmiegte sich ganz eng an seine Schwester. Sie legte ihren Arm um ihn. Hungrig biss auch er in die Brezel. Gemeinsam aßen sie von ihr. “ Ich wünschte, ich würde immer länger und größer werden und würde nie aufhören zu wachsen. Dann könnten die beiden Tag für Tag von mir essen „, dachte die Brezel. Sie dehnte und streckte sich nach allen Seiten, atmete tief durch ihre Brezelacht in der Mitte. Was soll ich Euch sagen. Sie wurde tatsächlich bei jedem Atemzug größer und länger. Sie hörte nicht auf zu wachsen. Das Mädchen und sein kleiner Bruder konnten jeden Tag von ihr essen.
Bis in alle Ewigkeit.